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Ali warf Thomas einen ängstlichen Blick zu. Wie sollte sie sich an all diese Einzelheiten jetzt noch erinnern?

»Ich kann es versuchen«, sagte sie.

»Versuchen?« Der Riese witterte ihren Geruch. »Ihr Leben hängt allein von Ihrem Gedächtnis ab. Ich an Ihrer Stelle würde es nicht nur versuchen.«

Thomas ging einen Schritt auf ihn zu.

»Ich werde ihr helfen«, sagte er.

»Dann helfen Sie ihr gut«, sagte das Ungeheuer. »Jetzt hängt auch Ihr Leben davon ab.«

Am 11. Februar um 14.20 Uhr erreichten sie in einer Tiefe von 9856 Faden eine Klippe, die hoch über einem lang gezogenen Tal aufragte. Es war noch immer nicht der Boden des Höllenschlundes, denn in weiter Ferne konnte man ein weiteres Loch klaffen sehen. Aber es war ein geologischer Absatz, eine Art Hochebene zwischen steil abfallenden Felswänden.

Damit sie nicht wieder in Versuchung geriet, sich zur Märtyrerin zu machen, fesselte Ike seine namenlose Tochter an einen Felsvorsprung in der Wand. Dann legte er sich am Rand der Klippe auf den Bauch, um sich einen Eindruck von der Umgebung zu verschaffen.

Das Tal hatte die Form eines Kraters und war von einem bräunlichen Leuchten erhellt. Ringsum zogen sich dicke Adern schimmernder Mineralien über die Felswände. Ike erkannte, dass es sich um einen gigantischen Hohlraum von vier oder fünf Kilometern Durchmesser handelte, und er erblickte die riesige, verwinkelte Stadt, die dieser Felsendom in seinem Schoß barg.

Sie lag etwa fünfhundert Meter unter seinem Ausguck und bedeckte den gesamten Kraterboden. Sie wirkte zugleich prächtig und erbärmlich. Von seinem Aussichtspunkt konnte er die heruntergekommene Metropolis vollständig überblicken.

Türme und Pyramiden waren verfallen. In der Ferne erhoben sich ein oder zwei Gebäude bis ungefähr zur Höhe des Klippenrandes, doch auch deren Spitzen waren weggebrochen. Kanäle hatten die breiten Straßen ausgehöhlt und mäandrierende Schluchten zwischen die Gebäude gegraben. Weite Teile waren geflutet oder von Fließstein eingeschlossen. Mehrere riesige Stalaktiten waren so schwer geworden, dass sie von der unsichtbaren Decke herabgebrochen waren und sich in die Gebäude gebohrt hatten.

Ike brauchte eine Weile, bis er sich an den Maßstab dieses Ortes gewöhnt hatte. Erst dann bemerkte er, wie viele Wesen sich dort unten aufhielten. Sie waren so zahlreich und dicht gedrängt, dass er zunächst nur eine Art Flecken auf dem Kraterboden erkannte. Doch der Fleck bewegte sich langsam, träge wie ein Gletscher. Aus der Entfernung konnte er keine einzelnen Gestalten erkennen, aber seiner Schätzung nach mussten sich dort unten mehrere Tausend Hadal aufhalten, vielleicht sogar Zehntausende. Er hatte also richtig vermutet: Es gab eine Zufluchtsstätte.

Sie mussten von überall her, aus dem gesamten Subplaneten an diesen Ort gekommen sein. Ihre große Anzahl verhieß sowohl gute als auch schlechte Nachrichten. Wahrscheinlich würden Alis Entführer ebenfalls dieses Flüchtlingslager ansteuern, wenn sie nicht bereits angekommen waren. Ike hatte zwar noch keinen konkreten Plan gefasst, war jedoch davon ausgegangen, dass er es mit einer weitaus kleineren Horde zu tun haben würde. Aber hier war es unmöglich, Ali aus der Ferne ausfindig zu machen. Sich unter die Hadal zu mischen war unmöglich. Vielleicht würde es Monate dauern, sie zu finden, und die ganze Zeit über würde er sich auch noch um seine Geisel kümmern müssen. Diese Aussicht brachte ihn wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Er warf einen Blick auf seine Uhr und prägte sich Zeit, Datum und Höhe ein.

Als er die Schritte hinter sich hörte, wollte er mit dem Messer in der Hand aufspringen, sah jedoch nur noch einen Gewehrkolben, der ihm ins Gesicht schlug. Er spürte, wie ihm die Haut über dem Schläfenbein aufplatzte. Dann wurde es schwarz um ihn.

Als Ike wieder zu sich kam, waren seine Hände mit seinem eigenen Seil an seine Füße gefesselt. Mühsam öffnete er die Augen. Sein Bezwinger saß wartend in anderthalb Metern Entfernung, barfuß und in Lumpen, und betrachtete Ikes Gesicht durch ein Nachtsicht-Zielfernrohr der U.S. Army. Ike seufzte. Letztendlich hatten ihn die Ranger doch noch aufgespürt.

»Warte«, sagte Ike. »Warte noch, bevor du schießt.«

»Klar doch«, sagte der Mann, dessen Gesicht noch immer hinter dem Gewehr und dem Zielfernrohr verborgen war.

»Sag mir nur, warum.« Was hatte er getan, um ihre Rache auf sich zu ziehen?

»Warum was, Ike?« Der Mann hob den Kopf.

Ike war wie vom Donner gerührt. Es war kein Ranger.

»Tja, das ist eine Überraschung, was?«, sagte Shoat.

»Ich hätte es auch nicht für möglich gehalten, dass ein stinknormaler Typ wie ich den großen Ike Crockett überlisten kann. Aber es war das reinste Kinderspiel. Ich habe den Supermann fertig gemacht und nebenbei auch noch das Mädchen gekriegt.«

Ike sah zu seiner Tochter hinüber. Shoat hatte ihre Fesseln fester gezogen. Immerhin hatte er das Mädchen nicht ohne viel Federlesens abgeknallt.

Auch bärtig und ausgemergelt hatte Shoat sein feistes Grinsen nicht verloren. Er war sehr mit sich zufrieden. »In gewisser Hinsicht«, sagte er, »sind wir uns sehr ähnlich, du und ich. Wir sind Gründlinge. Wenn’s darauf ankommt, ernähren wir uns von der Scheiße anderer Leute. Und wir halten uns immer ein Hintertürchen offen. Damals in der Festung, als die Haddies plötzlich über uns herfielen, war ich darauf vorbereitet. Genau wie du.«

Ikes Gesicht schmerzte von dem Kolbenhieb. Was ihn aber am meisten schmerzte, war sein verletzter Stolz. »Hast du mich verfolgt?«

Shoat tätschelte das Zielfernrohr seines Gewehres. »Überlegene Technologie«, sagte er. »Ich habe dich aus zwei Kilometern Entfernung entdeckt, so deutlich wie am helllichten Tag. Und nachdem dir unser kleines Vögelchen ins Netz gegangen ist, war es noch viel einfacher. Aber wie auch immer ...« Er warf einen Blick hinter Ike über den Vorsprung. »Jedenfalls sind wir der Sache auf den Grund gegangen, was?«

Während Shoat redete, versuchte Ike die Lage einzuschätzen. Ein Rucksack an der Wand, halb leer. Nicht weit von dem lauernden Mädchen entfernt hatte Shoat den Plastikmüll einer Militärration auf dem Boden verstreut. Also war er ziemlich lange ohnmächtig gewesen; Shoat hatte ihn nicht nur fesseln können, sondern auch noch Zeit fürs Essen gehabt. Noch wichtiger war die Information, dass er offensichtlich allein gekommen war: Es waren nur ein Rucksack und die Reste einer Ration zu sehen. Und die Proteinriegel ließen darauf schließen, dass er sich nicht von dem ernährte, was ihm die Umgebung bot. Wahrscheinlich hatte er keine Ahnung, wie man das machte.

Eine Sache jedoch machte Ike stutzig. Shoat hatte doch ein Peilgerät, also eine Fahrkarte nach Hause. Warum trieb er sich immer noch so tief unter der Erde herum?

»Sie hätten ein Floß nehmen oder einfach losmarschieren sollen«, sagte Ike. »Inzwischen könnten sie schon fast oben sein.«

»Das hätte ich auch getan, aber leider hat mir jemand mein Lieblingsspielzeug weggenommen.« Shoat hob den Lederbeutel an, der ihm wie ein Amulett um den Hals hing. »Das war die Garantie für meine Rückkehr. Ich habe erst gemerkt, dass mein Peilungsschätzchen weg ist, als ich es brauchte und im Beutel nur das hier fand.«

Er öffnete den Beutel und schüttelte ein flaches Jadeplättchen heraus.

Ike war sofort klar, dass jemand das Gerät gestohlen und durch dieses Stück aus einer antiken Hadal-Rüstung ersetzt haben musste.

»Und jetzt wollen Sie, dass ich Sie nach oben führe?«, vermutete er.

»Ich glaube nicht, dass wir ein gutes Team wären, Ike. Wie weit würden wir kommen, bevor uns Haddie erwischt? Oder du mich fertig machst?«

»Was wollen Sie dann?«

»Mein Peilgerät. Das wäre wirklich nett von dir.«

»Selbst wenn wir es finden - was können Sie hier schon damit anfangen?« Die Hadal würden ihn trotzdem aufspüren, ob er sein Peilgerät nun bei sich trug oder nicht.