Shoat lächelte rätselhaft und richtete das Jadeplättchen wie eine Fernbedienung auf Ike. »Damit kann ich das Programm wechseln.« Er machte ein schnalzendes Geräusch. »Ich spiele nur ungern den Propheten, Ike, aber du bist nicht mehr als eine Illusion. Genau wie das Mädchen und alle anderen da unten. Keiner von euch existiert.«
»Und Sie?« Ike verspottete ihn nicht. Das hier war der Schlüssel zu Shoats eigenartigem Benehmen.
»Ich schon. Klar doch. Ich bin so etwas wie die treibende Kraft. Der Urgrund aller Dinge. Oder die letzte Ursache. Wenn Ihr alle nicht mehr existiert, werde ich immer noch da sein.«
Shoat wusste etwas, oder glaubte es jedenfalls, doch Ike hatte keine Ahnung, worum es sich dabei handeln könnte. Er war ihnen unbekümmert ins Zentrum des Abgrunds gefolgt und hatte ihnen dort aufgelauert. Er hätte sie in den vergangenen Wochen jederzeit aus der Entfernung erschießen können. Stattdessen hatte er sie aus irgendeinem Grund verschont. Welcher Logik folgte dieser Bursche? Shoat war klug, gerissen und gefährlich. Ike machte sich Vorwürfe. Er hatte ihn unterschätzt.
»Sie haben den Falschen erwischt«, sagte Ike. »Ich habe Ihr Gerät nicht mitgenommen.«
»Natürlich nicht. Ich habe lange darüber nachgedacht. Walkers Jungs hätten sich solche Tricks auch nicht einfallen lassen. Die hätten mir einfach eine Kugel verpasst. Du wahrscheinlich auch. Also muss es jemand anderes gewesen sein, jemand, der den Diebstahl vertuschen wollte. Jemand, der glaubt, meinen Code zu kennen. Ich weiß, wer es war, Ike. Und ich weiß, wann sie es getan hat.«
»Das Mädchen?«
»Glaubst du wirklich, ich hätte dieses wilde Tier in meine Nähe gelassen? Nein. Ich meine Ali.«
»Ali? Sie ist eine Nonne.« Ike schnaubte verächtlich, um seine Ablehnung zu unterstreichen. Aber wer könnte es sonst gewesen sein?
»Eine ziemlich gerissene Nonne. Du brauchst es gar nicht erst abzustreiten, Ike. Ich weiß, dass sie mit dir Hasch-mich gespielt hat. Solche Dinge bleiben mir nicht lange verborgen. Ich habe eine gute Menschenkenntnis.«
Ike betrachtete ihn. »Also sind Sie mir gefolgt, um ihr auf die Spur zu kommen.«
»Kluger Junge.«
»Aber ich habe sie nicht gefunden.«
»Doch, Ike. Du hast sie gefunden.« Shoat zog ihn an seinen Fesseln zum Klippenrand, legte Ike das Fernglas um den Hals und lockerte vorsichtig den Strick, mit dem Ikes Hände an seine Füße gefesselt waren. Dann trat er ein Stück zurück und zückte seine Pistole.
»Schau mal durch«, forderte er Ike auf. »Dort unten ist jemand, den du kennst. Sie und dieser lächerliche Häuptling. Seine satanische Majestät. Der Bursche, der sie entführt hat.«
Ike setzte sich mühsam auf. Seine Hände waren taub vom Strick, doch es gelang ihm, das Fernglas vor die Augen zu halten. Er suchte die Kanäle und die überfüllten Straßen ab, die jetzt vom grünen Licht des Nachtsichtgerätes erhellt waren.
»Such nach einem spitzen Turm, dann halte dich links«, wies ihn Shoat an.
Selbst mit Shoats Anweisungen, der durch das Zielfernrohr seines Gewehrs blickte, dauerte es mehrere Minuten. »Siehst du diese Säulen?«
»Sind das Walkers Leute?« Dort unten hingen zwei leblose Körper. Ali war nicht dabei. Noch nicht.
»Die ruhen sich nur ein bisschen aus«, sagte Shoat. »Sind ganz schön hart rangenommen worden. Es gibt noch einen weiteren Gefangenen. Ich habe ihn gesehen, bei Ali. Aber sie holen ihn immer wieder weg.«
Ike suchte weiter oben.
»Sie ist da«, ermutigte Shoat ihn. »Ich kann sie sehen. Unglaublich. Sieht aus, als schriebe sie in ihr Fahrtenbuch. Notizen aus dem Untergrund?«
Ike suchte weiter. Über den Hadal-Massen erhob sich ein Berg aus Fließstein, der ein aus dem Fels gehauenes Gebäude bis auf die oberen Stockwerke eingeschlossen hatte. Auf Ikes Seite waren Außenmauern des Gebäudes eingestürzt und gaben den Blick auf einen geräumigen Saal ohne Decke frei. Und dort saß sie. Ungefesselt. Warum auch nicht? Zwei Stockwerke tiefer belagerte sie die gesamte Hadal-Bevölkerung.
»Gefunden?«
»Ich sehe sie.« Eigenartigerweise konnte er keine Spuren ritueller Verstümmelungen erkennen. Normalerweise fingen sie mit den Brandzeichen und den Wundnarben gleich in den ersten Tagen an. Es dauerte Jahre, bis man davon genesen war. Aber Ali sah immer noch unberührt und unversehrt aus.
»Gut.« Shoat riss ihm das Fernglas aus den Händen. »Jetzt hast du deine Spur wieder. Du weißt, wohin du gehen musst.«
»Sie wollen, dass ich mich durch eine Stadt voller Hadal schleiche und Ihnen Ihr Peilgerät zurückhole?«
»Für so dumm musst du mich nicht halten. Auch du bist sterblich. Abgesehen davon: Warum sollte man eine Stadt heimlich betreten, wenn man ebenso gut einen großen Auftritt haben kann?«
»Ich soll einfach so hineinmarschieren und Ihr Eigentum zurückverlangen?«
»Besser du als ich.«
»Selbst wenn Ali das Peilgerät hätte - was dann?«
»Ich bin Geschäftsmann, Ike. Ich lebe und sterbe für Verhandlungen. Mal sehen, auf welche Geschäfte sich die Brüder dort unten einlassen.«
»Die dort unten? Die Hadal?«
»Du bist mein Bevollmächtigter. Mein privater Gesandter.«
»Sie werden Ali niemals freilassen.«
»Ich will ja nur mein Gerät.«
Ike war völlig verwirrt. »Warum sollten sie es herausrücken?«
»Genau darüber will ich mit ihnen verhandeln.« Shoat streckte die Hand nach seinem Tornister aus und zog einen ramponierten Laptop heraus, auf dem das Helios-Logo prangte. »Unsere Walkie-Talkies sind alle weg. Aber hier drin ist eine kleine Gegensprechanlage. Wir schalten eine Art Videokonferenz.«
Shoat klappte das Gerät auf und stellte den Rechner an. Er ging ein Stück zurück, steckte sich einen kleinen Ohrhörer ins Ohr und hielt sich das kleine Videomikrofon vors Gesicht. Seine grinsende Fratze huschte über den Bildschirm. »Test, Test, Test«, kam seine Stimme aus dem Computerlautsprecher.
Das noch immer an die Wand gefesselte wilde Mädchen stieß einen angsterfüllten Laut aus. Diese Art von Magie war ihr völlig unbekannt.
»Ich sage dir, was du zu tun hast, Ike. Du nimmst den Laptop mit hinunter in diese Totenstadt. Sobald du Ali gefunden hast, klappst du den Laptop auf. Achte darauf, dass zwischen dem Computer und mir kein Hindernis steht. Ich möchte nicht, dass die Übertragung gestört wird. Dann holst du mir ihren Häuptling ans Rohr. Und dann gibst du ihm erst mal diese Göre zurück, sozusagen als Beweis für meinen guten Willen. Von da an übernehme ich.«
»Und was ist für mich drin?«
Shoat grinste. »Kluges Kerlchen. Woran denkst du denn? Dein Leben? Oder Alis Leben? Jede Wette, dass ich die Antwort kenne.«
Das war genau die Chance, die Ike für Ali gewollt hatte. »Na gut«, sagte er. »Sie sind der Boss.«
»Schön, dich wieder an Bord zu haben, Ike.«
»Schneiden Sie mich los.«
»Aber sicher.« Shoat wackelte mit dem Messer, als sei Ike ein ungezogener kleiner Junge. Dann ließ er es auf den Boden fallen. »Ich möchte nur rasch noch etwas klarstellen. Es wird eine Weile dauern, bis du zum Messer gekrochen bist und dich losgeschnitten hast. Bis dahin sitze ich längst gemütlich mit geladener Flinte in meinem Versteck. Du begleitest diese kleine Menschenfresserin durch den Mob dort unten zu ihren Leuten, wo du mich sofort mit ihrem Obermacker in Verbindung setzt, egal wer dieser Kerl sein mag.«
Shoat stellte den Computer auf den Boden und zog sich zu einer höher gelegenen Nische mit schartigen Rändern in der Felswand zurück. Ikes Blick ruhte auf dem Messer.
»Keine Tricks, keine Umwege, keine Täuschungsmanöver. Der Laptop ist angeschaltet. Schalte ihn nicht aus. Ich möchte alles hören, was du sagst«, rief Shoat.
»Und komm bloß nicht auf die Idee, mich zu suchen. Von meiner Position aus habe ich alles prima unter Kontrolle. Eine falsche Bewegung, Ike, und das Feuerwerk geht los. Aber ich erschieße nicht dich, Ike. Ali wird für deine Sünden bezahlen. Sie ist zuerst dran. Danach suche ich mir meine Ziele nach Lust und Laune aus. Für dich wird es allerdings keine Kugel geben, das verspreche ich dir. Die Hölle darf dich behalten. Haben wir uns verstanden?« Ike kroch auf das Messer zu.