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Und in der tiefsten Tiefe

lauert stets Noch eine tiefere

und tut sich auf Und droht,

mich zu verschlingen,

gegen die Die Hölle, die ich leide,

himmlisch scheint.

JOHN MILTON,

Das verlorene Paradies

27

Shangri-La

UNTER DEM SCHNITTPUNKT VON JAVAGRABEN, PALAUGRABEN UND PHILIPPINENGRABEN

Ike stieg in die urzeitliche Stadt hinab und führte seine Tochter an einem Seil mit sich. Die Stadt erstreckte sich in dem organischen Zwielicht vor ihm, ein Puzzle aus Überresten geschmolzener Architektur und augenloser Fenster. Auf dem Boden des riesigen Kraters angelangt, schlang Ike sich Shoats Laptop über die Schulter und knickte die Leuchtkerze, die Shoat ihm mitgegeben hatte. Sofort glühte der Stab grün auf. Selbst ohne Zielfernrohr konnte Shoat jetzt seinen Weg durch die Stadt verfolgen.

Auf dem ersten Kilometer stellte sich ihm niemand in den Weg, nur hier und da krabbelten kleinere Tiere über den Fließstein. Bei jedem Schritt versuchte Ike sich eine Alternative zu dem sich jetzt anbahnenden Szenario zu überlegen. Shoats Spinnennetz schien lückenlos geknüpft.

Ike spürte förmlich das elektronische Zielfernrohr, das auf seinen Hinterkopf gerichtet war. Er konnte versuchen, der Kugel zu entkommen - oder sie eben abkriegen. Aber Shoat hatte sein Ziel deutlich genug verkündet: zuerst Ali. Ike ging weiter durch die versteinerte Stadt.

Die Nachricht, dass ein Mensch die Stadt unbefugt betreten hatte, eilte ihm voraus. Im Zwielicht der grünen Kerze wirkten die Gestalten, die sich normalerweise als Silhouetten vor dem blassen Schimmer des Gesteins abgezeichnet hätten, wie lauernde Schatten. Der Neonschein der Kerze machte seine Nachtsicht zunichte. Andererseits hatte er seine Fähigkeit, sich im Dunkeln zu bewegen, schon seit Anbeginn der Expedition sträflich vernachlässigt. Er hatte sogar die Nahrung der Menschen zu sich genommen. Es war unmöglich, seine Herkunft zu verschleiern.

Er roch, dass sich rings um ihn herum viele Hadal drängten. Ein Stein traf ihn am Oberarm, nicht fest, nur um ihn ein wenig aus der Reserve zu locken. Geflügelte Tiere strichen dicht über ihn hinweg. Ike behielt seinen gleichmäßigen Schritt bei.

Die ausgetretenen Treppen der Stadt führten ihn immer höher. Ike näherte sich jener Erhebung im Zentrum, die er durch das Fernglas bereits gesehen hatte. Die Gebäude ringsum waren mit Flüchtlingen überfüllt. Sie lagen auf dem nackten Boden, krank und hungrig.

In all seinen Jahren der Gefangenschaft hatte Ike nicht einmal einen Bruchteil der hier versammelten hadalischen Varianten gesehen. Einige Arten hatten Flossen an Stelle von Armen, andere wiederum Füße, die Händen glichen. Es gab Köpfe, die durch Abbinden abgeflacht waren, und mutationsbedingte leere Augenhöhlen. Die Vielfalt der Körperverzierungen und Kleidungsstücke war atemberaubend. Einige gingen nackt, andere trugen Rüstungen oder Kettenhemden. Er ging an Eunuchen vorbei, die ihre Beschneidung stolz zur Schau stellten, an Kriegern mit Perlen im Haar und Skalps an den Hörnern, an Frauen, die absichtlich klein oder fett gezüchtet worden waren.

Ike durchwanderte dieses Panoptikum mit ungerührtem Gesichtsausdruck. Er stieg zur Bergspitze hinauf, und die Hadal-Meute schloss sich immer enger um ihn. Hier und da wölbten sich abgenagte Rippen über ausgeweideten Kadavern. Er wusste, dass in Notzeiten das menschliche Vieh zuerst geschlachtet wurde.

Das Mädchen ging hinter ihm und versuchte, Schritt zu halten. Seine Tochter war sein Passierschein. Niemand stellte sich ihm mehr in den Weg. Vom Klippenrand aus hatte Ike gesehen, dass dieser Krater keine Sackgasse war, dass der Höllenschlund sich weiter hinten noch tiefer in den Abgrund bohrte. Trotzdem schien sich das gesamte Volk hier versammelt zu haben. Keiner von ihnen machte Anstalten, noch tiefer in die Erde vorzudringen. Genau das machte Ike neugierig darauf, was sich noch alles in den finsteren Abgründen verbergen mochte. Im nächsten Moment stimmte ihn seine Neugier traurig, denn es war unwahrscheinlich, dass er die nächsten Stunden überleben und noch irgendwelche Erkundungstouren unternehmen würde.

Sie gingen weiter in einem Halbkreis um den Hügel herum. Die Ruinen auf der abgeflachten Spitze bedeckten eine Fläche von mehreren Hektar. Überall auf den amorphen Steinfalten lagen oder saßen Hadal, doch eigenartigerweise hatten sie das Gebäude selbst nicht besetzt. Sie machten keinerlei Anstalten, ihn aufzuhalten und schienen in aller Ruhe abzuwarten.

Die Fassade des Hauptgebäudes war auf einer Seite eingestürzt. Ike und das Mädchen kletterten über den Schutt in das obere Stockwerk der Ruine, das Ike bereits durch das Fernglas gesehen hatte. Das Dach war heruntergebrochen oder abgedeckt worden, wodurch sich Shoat und seinem Zielfernrohr eine perfekte Bühne darbot. Die Galerie war geräumiger, als Ike erwartet hatte. Erst jetzt sah er, dass es sich um eine Art Bibliothek voller Schränke und Regale handelte.

Ike blieb in der Mitte des Raums stehen. Hier hatte er Ali lesen gesehen. Sie war nicht mehr da. Der Boden war leicht geneigt, wie bei einem sinkenden Schiff. An diesem Ort, unter dem Gegenstück eines Himmelsgewölbes, fühlte er sich wenigstens nicht beengt. Wenn er schon die Wahl hatte, so wollte er nicht in irgendeinem engen Schacht sterben. Dann lieber im Freien. Außerdem musste er der Anweisung nach in Sichtkontakt zu Shoat bleiben.

Er stellte den Computer auf eine abgebrochene Stele und klappte den Deckel auf. Shoats Gesicht leuchtete wie ein verkleinerter Zauberer von Oz auf. »Worauf warten die denn?«, fragte seine Stimme aus dem Lautsprecher. Das wilde Mädchen wich erschrecken zurück. Einige Hadal, die sich in der Nähe aufgehalten hatten, verzogen sich in die Dunkelheit und stießen heulende Alarmrufe aus.

»Hier müssen wir nach den Spielregeln der Hadal spielen«, antwortete Ike.

Zehn endlose Minuten vergingen. Dann trat Ali aus dem unübersichtlichen Gebäudeinneren zu ihm heraus. Ein paar Meter vor ihm blieb sie stehen. Tränen rannen über ihr Gesicht. »Ike.« Sie hatte um ihn getrauert. Und jetzt trauerte sie noch einmal um ihn.

»Ich dachte, du seist tot. Ich habe für dich gebetet. Und dann habe ich darum gebetet, dass du mich, wenn du doch noch lebst, auf keinen Fall suchen kommst.«

»Den Schluss muss ich irgendwie nicht mitgekriegt haben«, lächelte Ike. »Ali, ist mit dir alles in Ordnung?« »Sie haben mich gut behandelt, jedenfalls im Vergleich zu Walkers Leuten. Ehrlich gesagt, inzwischen glaube ich sogar, es könnte hier einen Platz für mich geben.«

»Sag so was nicht!«, fuhr Ike sie an. Die Hadal hatten also bereits angefangen, sie zu verführen. Es war der verführerische Zauber einer Märchenwelt, der verlockende Gedanke, keine Vergangenheit mehr zu haben. Man begeisterte sich für einen Ort wie Schwarzafrika, Paris oder Katmandu, und schon besaß man kein Heimatland mehr, man war einfach nur noch ein Bürger der Zeit. Das hatte er hier unten gelernt. Unter den gefangenen Menschen hatte es schon immer Sklaven gegeben, lebende Tote. Und es gab die anderen, nur sehr wenige, wie ihn -oder Isaak -, die ihre Seele an diesen Ort verloren hatten.

»Aber ich bin schon so dicht dran am Wort. Am ersten Wort. Ich spüre es bereits, es ist hier irgendwo, Ike.«

Ihrer aller Leben stand auf dem Spiel. Shoats Sturm würde bald losbrechen, und sie erzählte ihm etwas von der Ursprache? Das Wort war ihre Verführung. Sie war seine.