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»Himmlische Heerscharen werden dich in den Schlaf singen«, murmelte er und hielt das Auge wieder vor das Zielfernrohr.

Noch vor einer Minute hatte es so ausgesehen, als würde Ike jeden Augenblick türmen. Eigenartigerweise lag er jetzt auf den Knien, buckelte vor einer Gestalt, die aus dem Gebäudeinneren herauskam. Das war vielleicht mal ein Anblick: Crockett in der Pose des Besiegten, die Stirn unterwürfig auf den Fußboden gepresst.

Shoat wünschte, er hätte ein besseres Fernglas zur Hand. Wer mochte das wohl sein? Wie gerne hätte er das Gesicht des Hadal aus der Nähe gesehen. So aber musste er sich mit dem Zielfernrohr zufrieden geben.

Pleased to meet you, summte Shoat. Hope you guessed my name.

»Du bist also zu mir zurückgekehrt«, sprach die Stimme aus der Dunkelheit. »Erhebe dich.«

Ike hob nicht einmal den Kopf.

Wie gelähmt von Ikes unterwürfiger Geste, starrte Ali seinen nackten Rücken an. Das stellte ihr ganzes Weltbild auf den Kopf. War er nicht immer das Urbild des freien Geistes gewesen, der Rebell schlechthin? Und jetzt kniete er im Staub, ohne jeden Widerstand, ohne den geringsten Protest.

Das Oberhaupt der Hadal - ihr Fürst, Mahdi, Khan, König oder wie immer man seinen Namen übersetzen mochte - stand reglos vor dem demütig kauernden Ike. Er trug eine Rüstung aus Jade- und Kristallplatten, darunter das kurzärmelige Kettenhemd eines Kreuzritters.

Das war Satan? Die plötzliche Erkenntnis verursachte Ali Übelkeit. Das war derjenige, den Ike gesucht hatte? Sie hatte geglaubt, er wolle ihn vernichten, aber jetzt betete er ihn an. Ikes Unterwerfung war vollständig, seine Angst und seine Scham waren nicht zu übersehen. Er scheuerte mit der Stirn über den Fließstein.

»Was tust du da?«, murmelte sie, aber die Frage war nicht an Ike gerichtet.

Thomas öffnete feierlich die Arme, und ringsum erhob sich aus der Stadt das Gebrüll der Hadal-Clans. Ali sank fassungslos in die Knie. Sie wusste nicht, wo sie anfangen sollte, um das Ausmaß seiner Täuschungen zu ergründen. Immer wenn sie gerade eine davon begriffen hatte, schob sich eine noch unglaublichere in den Vordergrund. Er hatte sich als ihr Mitgefangener ausgegeben, er hatte von Anfang an Januarys Gruppe manipuliert, und am verblüffendsten war seine Fähigkeit, als Mensch aufzutreten, obwohl er durch und durch Hadal war.

Trotzdem sah Ali selbst hier, wo sie ihn in eine uralte Kampfausrüstung gekleidet die Huldigungen seines Volkes entgegennehmen sah, immer noch den Jesuiten in ihm, streng, rigoros und human. Es war unmöglich, das Vertrauen und die Kameradschaft, die sie in den vergangenen Wochen aufgebaut hatte, einfach auszubrennen.

»Erhebe dich«, befahl Thomas. Dann fiel sein Blick auf Ali und wurde sanfter. »Bitte, sag ihm doch, er soll aufstehen. Ich muss ihm ein paar Fragen stellen.«

Ali kniete sich neben Ike, lehnte den Kopf an seinen, damit sie einander durch die tosenden Lobpreisungen der Hadal verstehen konnten. Sie ließ die Hand über seine knotigen Schultern streichen, über die Narben an seinem Hals, dort, wo einst der Eisenring in seiner Wirbelsäule gesteckt hatte.

»Steh auf«, wiederholte Thomas.

Ali sah zu ihm auf.

»Er ist nicht dein Feind«, sagte sie. Eine innere Stimme riet ihr, sich für Ike einzusetzen. Nicht nur wegen seiner Unterwerfung und Hilflosigkeit - plötzlich hatte sie Angst um sich selbst. Wenn Thomas tatsächlich der oberste Herrscher war, dann war er es, der es zugelassen hatte, dass Walkers Soldaten tagelang gefoltert wurden. Und auch Ike war Soldat.

»Zu Anfang nicht«, erwiderte Thomas. »Zu Anfang, als wir ihn hereinholten, war er eher so etwas wie ein Waisenkind. Und ich führte ihn zu unserem Volk. Aber was ist der Dank dafür? Er bringt Krieg, Hungersnot und Krankheit über uns. Wir schenkten ihm das Leben und zeigten ihm den Weg. Er aber brachte Soldaten, diente Kolonisten als Kundschafter. Jetzt ist er zu uns heimgekehrt. Aber ist er als verlorener Sohn gekommen? Oder als unser Todfeind? Antworte mir. Erhebe dich.«

Ike stand auf.

Thomas nahm Ikes linke Hand und hob sie an seinen Mund. Ali dachte, er wollte die Hand des Sünders küssen, sich mit ihm versöhnen. Schon stieg ein Hoffnungsschimmer in ihr auf. Stattdessen spreizte er Ikes Finger und schob sich den Zeigefinger in den Mund. Er saugte daran. Der Anblick war so pervers, dass Ali nicht wusste, wo sie hinsehen sollte. Der alte Mann schob den Finger bis zum letzten Glied hinein und legte die Lippen um den untersten Knöchel.

Ike sah mit zusammengepressten Kiefern zu Ali hinüber. Mach die Augen zu, signalisierte er.

Sie behielt sie offen.

Thomas biss zu.

Seine Zähne bohrten sich durch den Knochen.

Ikes Blut sprudelte über Thomas’ Jaderüstung und in Alis Haare. Sie schrie auf. Ikes Körper zitterte. Sonst zeigte er keine Reaktion, nur sein Kopf senkte sich demütig.

Jetzt erkannte Ali, dass der leibhaftige Satan vor ihr stand. Er hatte sie von Anfang an in die Irre geführt. Sie hatte sich selbst verleiten lassen. Durch die systematische Beschäftigung mit ihren Landkarten und ihrer viel versprechenden Interpretation des hadalischen Alphabets, seiner Glyphen und seiner Geschichte, hatte sich Ali zu der Überzeugung verleiten lassen, sie kenne die Bedingungen dieses Ortes. Es war der Glaube der Gelehrten, Worte seien schon die Welt selbst. Doch hier stand die Legende mit den tausend Gesichtern. Erst freundlich, dann zornig, erst gebend, dann nehmend. Erst Mensch, dann Hadal.

Mit immer noch geneigtem Kopf kniete Ike nieder. »Verschone diese Frau«, bat er. Seine Stimme verriet die Schmerzen.

»Wie galant«, erwiderte Thomas eiskalt.

»Sie kann dir von Nutzen sein.«

Ali staunte weniger darüber, dass Ike sie zu retten versuchte, sondern darüber, dass sie gerettet werden musste. Bis vor wenigen Minuten hatte sie sich in Sicherheit geglaubt. Jetzt klebte Ikes Blut in ihrem Haar. Egal wie sehr sie sich auch in ihre wissenschaftliche Arbeit vertiefte, die Grausamkeit dieses Ortes war unerbittlich.

»Allerdings«, sagte Thomas. »In vielerlei Hinsicht.« Er streichelte Ali über das Haar, und seine Rüstung klingelte wie ein kristallener Kronleuchter. Sie zuckte vor der besitzergreifenden Geste zurück.

»Sie wird meine Erinnerung wieder herstellen. Sie wird mir tausend Geschichten erzählen. Durch sie werde ich mich an all die Dinge erinnern, die mir die Zeit gestohlen hat. Wie man die alten Schriften liest, wie man sich ein Imperium erträumt, wie man ein Volk zu wahrer Größe führt. So viel ist meinem Geist entfallen. Wie es ganz am Anfang war. Das Gesicht Gottes. Seine Stimme. Seine Worte.«

»Gott?«, murmelte sie.

»Oder wie du ihn sonst nennen willst. Der shekinah, der vor mir existierte. Die Fleisch gewordene Göttlichkeit. Noch vor Anbeginn der Geschichte. Im hintersten Winkel meiner Erinnerung.«

»Du hast ihn gesehen?«

»Ich bin er. Die Erinnerung an ihn. Ein hässliches Scheusal, so weit ich mich entsinne. Mehr Affe als Moses. Aber ich habe, wie du siehst, sehr viel vergessen. Es ist so, als wollte ich mich an den Augenblick meiner Geburt erinnern. Meine erste Geburt als der, der ich bin.« Seine Stimme wurde so matt wie Staub.

Erste Geburt? Die Stimme Gottes? Ali konnte sich keinen Reim auf diese Worte machen, und mit einem Mal wollte sie es auch nicht mehr. Sie wollte nach Hause. Sie wollte Ike. Doch das Schicksal hatte sie mit diesem Höllenschlund verwoben. Da hatte sie nun ihr ganzes Leben lang gebetet, und jetzt stand sie hier, umzingelt von Ungeheuern.

»Pater Thomas«, sagte sie. Sie hatte keine Angst davor, seinen anderen Namen auszusprechen, aber sie brachte ihn einfach nicht über die Lippen. »Seit wir uns kennen lernten, habe ich Ihre Wünsche stets getreu erfüllt. Ich habe meine eigene Vergangenheit hinter mir gelassen und bin hierher gekommen, um Ihre Vergangenheit wieder herzustellen. Ich werde hier bleiben, wie wir es vereinbart haben. Ich helfe Ihnen dabei, Ihre alte Sprache neu zu erlernen. Daran hat sich nichts geändert.«