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»Sie kommen, guck, Mutter, sieh doch.« Kokie zeigte mit ihrer verstümmelten Hand aus dem Fenster.

Ali sah kurz auf und klappte den Koffer zu. »Peter?«, fragte sie. Peter war ein verwitweter Bure, der ihr gerne einen Gefallen tat und sie bei Bedarf mit seinem Kleinlaster, den die Eingeborenen bakkie nannten, in die Stadt fuhr.

»Nein, Mum.« Kokies Stimme wurde ganz leise. »Casper kommt.«

Ali trat neben Kokie ans Fenster. Und wirklich kam da draußen ein gepanzerter Truppentransporter vor einem langen Federbusch roten Staubs auf sie zugebraust. Die Casspirs waren bei der schwarzen Bevölkerung sehr gefürchtet, denn sie brachten den Tod. Ali hatte keine Ahnung, warum man sie von einem Militärfahrzeug abholen ließ und verbuchte es auf der langen Liste gedankenloser Einschüchterung.

»Keine Sorge«, sagte sie zu dem verängstigten Mädchen.

Der Casspir kam über die Ebene gerumpelt. Er war immer noch mehrere Kilometer entfernt, und auf dieser Seite des ausgetrockneten Sees wurde die Straße noch zerfurchter. Ali schätzte, dass das Fahrzeug bis zu ihren Hütten noch mindestens zehn Minuten brauchte.

»Sind alle so weit?«, fragte sie Kokie.

»Alles fertig, Mum.«

»Dann wollen wir noch rasch unser Foto machen.« Ali nahm ihre Kamera von der schmalen Pritsche und hoffte, dass die Winterhitze ihren einzigen Fuji Velvia-Film nicht zerstört hatte. Kokie betrachtete die Kamera voller Freude. Sie hatte noch nie zuvor ein Foto von sich gesehen.

Trotz aller Trauer gab es für Ali gute Gründe, für ihre Versetzung dankbar zu sein. Obwohl sie sich dabei ein wenig egoistisch vorkam, wusste Ali, dass sie das Zeckenfieber, die Giftschlangen und die aus Dung und Lehm gefertigten Wände nicht vermissen würde. Auch nicht die niederschmetternde Unwissenheit dieser sterbenden Bauern und die Hassausbrüche der schweinsäugigen Afrikaner mit ihrer feuerwehrroten Naziflagge und ihrem brutalen, menschenfressenden Kalvinismus. Und schon gar nicht die Hitze.

Ali duckte sich unter dem niederen Türsturz und trat hinaus ins Morgenlicht. Noch vor den Farben überwältigte sie der Geruch. Sie saugte das Aroma tief in die Lungen, schmeckte den wilden Aufruhr blauer Töne auf der Zunge.

Sie hob den Blick. Rings um das Dorf erstreckte sich über mehrere Morgen Land ein Teppich von Kornblumen. Das war ihr Werk. Sie mochte kein Priester sein, aber sie konnte trotzdem ein Sakrament spenden. Kurz nachdem der Dorfbrunnen gebohrt war, hatte sie eine Spezialmischung Wildblumensamen bestellt und eigenhändig ausgesät. Die Beete waren geradezu explodiert. Die Ernte war eine einzige Freude gewesen und hatte den Ausgestoßenen zu einem gewissen Stolz verhelfen, einem Gefühl, das sie kaum mehr kannten. Die Kornblumen waren zu einer kleinen Legende geworden. Die Farmer -Buren und Engländer - kamen aus einem Umkreis von mehreren Hundert Kilometern mit ihren Familien angefahren, um dieses Blumenmeer zu bewundern. Eine kleine Gruppe urzeitlicher Buschleute war zu Besuch gekommen und hatte erschrocken und mit aufgeregtem Getuschel reagiert, weil sie sich fragten, ob hier womöglich ein Stück des Himmels gelandet sei. Ein Geistlicher der christlich-zionistischen Kirche hatte eine Messe unter freiem Himmel abgehalten. Schon bald würden die Blumen verblühen. Doch die Legende war da. In gewisser Hinsicht hatte Ali diese Aussätzigen von ihrer Ausgestoßenheit befreit und ihren Anspruch auf Menschlichkeit wiedererweckt.

Die kleine Gemeinde wartete am Bewässerungsgraben auf sie, der vom Brunnen zu den Mais- und Gemüsebeeten führte. Als sie die Idee von einem Gruppenfoto geäußert hatte, wollten sie es unbedingt an dieser Stelle aufnehmen lassen. Das hier war ihr Garten, ihre Nahrung, ihre Zukunft.

»Guten Morgen«, begrüßte sie Ali.

»Guten Morgen, Fundi«, erwiderte eine feierliche Frauenstimme. Fundi war eine Abkürzung für umfundisi. Das bedeutete Lehrerin und war in Alis Augen die allerhöchste Auszeichnung.

Einige spindeldürre Kinder lösten sich aus der Gruppe, und Ali ging in die Hocke, um sie zu umarmen. Sie rochen richtig gut, besonders an diesem Morgen, denn ihre Mütter hatten sie gründlich gewaschen.

»Wie seht ihr denn aus?«, rief Ali. »So ordentlich und sauber. Wer von euch will mir helfen?«

»Ich, ich! Ich will helfen, Mum!«

Ali beauftragte die Kinder damit, ein paar Steine aufzuhäufen und einen Stock in das provisorische Stativ zu stecken.

»Jetzt geht alle zurück, sonst kippt es um«, sagte sie. Sie erledigte die paar Handgriffe rasch. Das Herannahen des Casspir sorgte bereits für einige Unruhe, und sie wollte, dass alle auf dem Bild glücklich aussahen. Sie richtete die Kamera auf dem Stativ aus und schaute durch den Sucher. »Näher zusammen«, sagte sie und winkte. »Ihr müsst näher zusammenrücken.«

Das Licht war gerade richtig. Es kam von schräg oben und war noch nicht zu hart. Es würde ein freundliches Bild werden. Natürlich ließen sich die Verwüstungen der Krankheit und der Verbannung nicht vertuschen, doch sie würden das Lächeln und das Leuchten der Augen dieser Menschen umso deutlicher hervorheben. Während sie die Schärfe einstellte, fing sie an zu zählen. Zählte noch einmal. Jemand fehlte.

In der ersten Zeit nach ihrer Ankunft hatte sie nicht daran gedacht, sie jeden Tag zu zählen, denn sie war zu sehr damit beschäftigt gewesen, ihnen Hygiene beizubringen, sich um die Kranken zu kümmern, Nahrungsmittel zu verteilen, die Brunnenbohrung zu organisieren und dafür zu sorgen, dass die Dächer gedeckt wurden. Doch nach einigen Monaten fiel ihr auf, dass es immer weniger wurden. Als sie sich danach erkundigte, wurde ihre Sorge mit einem Achselzucken und der Erklärung abgetan, die Leute kämen und gingen. Die schreckliche Wahrheit kam erst an dem Tag ans Licht, als sie sie auf frischer Tat ertappte.

Beim ersten Mal, als sie mitten im Busch auf sie stieß, hatte Ali zuerst gedacht, da machten sich Hyänen über einen Springbock her. Vielleicht hätte sie schon früher Verdacht schöpfen sollen. Bestimmt hätte ihr jemand etwas darüber erzählen können. Ohne zu überlegen hatte Ali die beiden abgemagerten Männer von der alten Frau, die sie gerade erwürgten, weggerissen, einen mit einem Stock geschlagen und sie davongejagt. Sie hatte alles missverstanden: das Motiv der Männer und auch die Tränen der alten Frau.

Es handelte sich um eine Kolonie sehr kranker und elender menschlicher Wesen. Doch obwohl ihnen wenig mehr als die Verzweiflung geblieben war, so kannten sie doch noch so etwas wie Erbarmen. Tatsache war, dass die Aussätzigen Euthanasie betrieben.

Es war eines der schlimmsten Probleme, mit denen Ali jemals zu kämpfen hatte. Es hatte nichts mit Gerechtigkeit zu tun, denn sie besaßen den Luxus der Gerechtigkeit. Diese Aussätzigen - gejagt, gequält, terrorisiert -verbrachten ihre letzten Tage am Rande der unwirtlichen Wildnis. Mit der Aussicht, bis zum Tode mehr oder weniger qualvoll dahinzusiechen, blieben ihnen nicht viele Möglichkeiten, Liebe zu zeigen oder einander Respekt zu erweisen. Letztendlich hatte sie akzeptiert, dass Mord eine davon war.

Sie töteten nur diejenigen, die ohnehin im Sterben lagen und darum baten. Es geschah stets ein Stück weit vom Lager entfernt und wurde von zwei oder mehr Leuten so rasch wie möglich erledigt. Ali hatte eine Art Burgfrieden mit dieser Praxis geschlossen. Sie versuchte, die erschöpften Seelen, die auf Nimmerwiedersehen in den Busch davonwankten, nicht zu bemerken. Sie versuchte, die Häupter ihrer Herde nicht zu zählen. Doch ihr Verschwinden hob die Verschwundenen umso deutlicher hervor, selbst wenn es sich um die Stillen handelte, die man sonst eigentlich kaum wahrgenommen hatte.