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Der Fürst der Unterwelt stand wankend vor ihr. Es sah aus, als würde er im nächsten Augenblick umstürzen. Aber sein Wille war stark. Seine Augen richteten sich nach oben, als wolle er davonfliegen. Schließlich gaben seine Knie nach. Ali spürte, wie sie jemand von den Beinen riss.

Ike hob sie hoch und rannte auf eine umgestürzte Säule im Halbdunkel zu. Er schleuderte sie hinter die Säule und sprang mit einem Satz hinter ihr her. Shoats vernichtender Feuerzauber fing jetzt erst richtig an. Es hatte den Anschein, als verberge sich dort oben eine ganze Armee. Seine Kugeln schlugen wie Blitze ein, detonierten in Kaskaden gleißenden Lichts und ließen tödliche Splitter durch die Bibliothek schwirren. Er bestrich die Ruine von einer Seite zur anderen, und überall sanken Hadal zu Boden.

Die steinerne Säule bot ihnen Deckung gegen den direkten Beschuss, aber nicht gegen die überall umherspritzenden Querschläger. Ike zog tote Körper heran und legte sie wie Sandsäcke über sich und Ali.

Ali schrie auf, als sie sah, wie wertvolle Handschriften, Dokumente und Schriftrollen durchsiebt wurden und in Flammen aufgingen. Kostbare Glaskugeln, die mit einer längst vergessenen Technik auf der Innenseite beschriftet waren, zerplatzten. Tontafeln, die von Teufeln, Göttern und Städten kündeten, zehnmal älter als der mesopotamische Schöpfungsmythos Enuma Elish, verwandelten sich in Staub. Die Feuersbrunst breitete sich in die weiter innen gelegenen Räume der Bibliothek aus, nährte sich an Reispapier, Papyrus und ausgetrockneten hölzernen Kunstwerken.

Die ganze Stadt schien aufzuheulen. Die Horden flohen den Berg hinab, weg von den Ruinen, obwohl eine Hand voll Märtyrer sich um Thomas scharte, um ihren Herrn vor weiterer Entweihung zu schützen. Mit einem schrillen Schrei sprang Isaak, gefolgt von einigen Kriegern, in die Dunkelheit.

Ali spähte um die Säule. Shoats Mündungsfeuer blitzte immer noch in der Ferne auf. Ein einziger Schuss hätte seine Flucht perfekt vorbereiten können. Stattdessen hatte er sich von seinem Zorn übermannen lassen.

Solange das Chaos in vollem Gange war, machte sich Ike daran, Ali zu verwandeln. Er ging nicht zimperlich vor. Die Flammen, das Blut, die Vernichtung uralter Schriften, uralten Wissens und verlorener Geschichte -das war alles zu viel für sie. Ike riss ihr die Kleider vom Leib und bestrich sie mit der schmierigen Ockerfarbe von den Leichnamen rings um sie her. Mit seinem Messer schnitt er gebräunte Häute und Haarflechten von den Toten. Er richtete Ali nach ihrem Vorbild her, machte ihr Haar mit geronnenem Blut steif und drehte es zu hornartigen Gebilden. Noch vor einer Stunde war sie eine über kostbare Texte gebeugte Wissenschaftlerin gewesen, ein Gast des Imperiums. Jetzt war sie von oben bis unten mit Tod besudelt. »Was tust du da?«, schluchzte sie.

Der Beschuss hörte auf. Sie hatten Shoat gefunden.

Ike erhob sich. Er duckte sich vor dem lodernden Scheiterhaufen gesammelter Schriften, und während einige Verwundete vorsichtig über die nadelartigen Schrapnellsplitter staksten, zog er Ali auf die Füße.

»Schnell!« sagte er und drapierte ein paar Stofffetzen um ihren Kopf.

Sie kamen an Thomas vorbei, der verbrannt und blutend, in seine Rüstung eingeschweißt zwischen seinen Getreuen lag. Sein Gesicht war versengt, aber noch vollständig. Unverständlicherweise war er immer noch am Leben. Seine Augen waren offen, sein starrender Blick wanderte umher.

Das Geschoss musste seine Wirbelsäule durchtrennt haben, schloss Ali daraus. Er konnte gerade noch den Kopf bewegen. Halb begraben unter seinen sterbenden Getreuen, erkannte er Ike und Ali, die auf ihn hinabblickten. Sein Mund bewegte sich, um sie zu verfluchen, aber da seine Stimmbänder verbrannt waren, war kein Laut zu hören.

Immer mehr Hadal tauchten auf, um sich um ihren Gottkönig zu scharen. Ike senkte den Kopf und machte sich mit Ali im Schlepptau auf den Weg hinaus. Mit etwas Glück konnten sie in dem allgemeinen Durcheinander entwischen. Dann spürte Ali, wie sie jemand von hinten am Arm packte.

Es war das wilde Mädchen. Ihr Gesicht war blutverschmiert, doch sie hatte die Verkleidung sofort durchschaut und wusste genau, was Ike und Ali vorhatten. Sie musste nur laut losschreien.

Ike zog ein Messer. Das Mädchen blickte auf die schwarze Klinge, und Ali konnte sich denken, was in ihr vorging. Da sie als Hadal erzogen worden war, konnte sie nur eine tödliche Absicht dahinter vermuten.

Stattdessen bot ihr Ike das Messer an. Ali folgte ihrem Blick, der von Ike zu ihr und wieder zurück zuckte. Vielleicht erinnerte sie sich an etwas Freundliches, das sie ihr getan hatten, an einen Akt des Mitleids. Vielleicht sah sie etwas in Ikes Gesicht, das zu ihr gehörte, eine Verbindung zu ihrem eigenen Spiegelbild. Was auch immer in ihrem Kopf vor sich ging, jedenfalls traf sie ihre Entscheidung.

Das Mädchen drehte den Kopf einen Augenblick zur Seite. Als sie wieder hinsah, waren die beiden nicht mehr da.

Ich sank hinunter zu der Berge Gründen,

der Erde Riegel schlossen sich hinter mir ewiglich.

Aber du hast mein Leben aus dem Verderben geführt.

JONA 2:7

28

Der Aufstieg

Wie ein Fisch mit wunderschönen grünen Schuppen lag Thomas auf dem Steinboden. Sein Mund war offen, aber stumm. Er starb, daran bestand kein Zweifel. Vom Hals abwärts konnte er weder einen Muskel bewegen noch seinen Körper spüren, was in Anbetracht der Zerstörungen, die Shoats Kugel angerichtet hatte, eine Gnade war. Trotzdem marterten ihn fürchterliche Seelenqualen.

Mit jedem angestrengten Atemzug roch er das verbrannte Fleisch auf seinen Knochen. Wenn er die Augen öffnete, sah er seinen Mörder vor sich. Wenn er sie schloss, hörte er, wie seine Untertanen stoisch auf seine große Verwandlung warteten. Seine größte Qual bestand darin, dass das Feuer seinen Kehlkopf versengt hatte, und er seinem Volk nicht befehlen konnte, sich zu zerstreuen.

Er öffnete die Augen. Dort hing Shoat mit gefletschten Zähnen am Kreuz. Sie hatten dabei ausgezeichnete Arbeit geleistet, hatten die Nägel durch die Lücken in seinen Handgelenken getrieben und kleine Stützen für Hinterteil und Füße angebracht, damit er nicht an den Armen hing und zu bald erstickte. Das Kruzifix war eigens zu Thomas’ Füßen errichtet worden, damit er sich an den Qualen des Menschen laben konnte.

Shoat würde dort oben wochenlang aushalten. Ein Fleischfetzen baumelte von seiner Schulter herab, damit er Nahrung zu sich nehmen konnte. Seine Ellbogen waren ausgerenkt und seine Genitalien verstümmelt worden; ansonsten war er noch ziemlich intakt. Hier und da hatte man ihm Zeichen in die Haut geschnitten. Ohren und Nasenflügel waren mit Metallklammern markiert. Damit niemand auf den Gedanken kam, der Gefangene habe keinen Eigentümer, hatte man ihm das Symbol für Älter-als-Alt ins Gesicht gebrannt.

Thomas wandte den Kopf von diesem grausigen Kunstwerk ab. Sie konnten nicht wissen, dass Shoats Gegenwart ihm keine Freude bereitete. Sein Anblick machte Thomas nur noch wütender. Es war dieser Mann, der das Verderben entlang der Route der Helios-Expedition ausgesetzt hatte, und trotzdem konnte Thomas ihn nicht befragen, um die heimtückischen Details zu erfahren. Er konnte den Völkermord nicht abwenden. Er konnte seine Kinder nicht warnen, sie tiefer hinab ins Unbekannte schicken. Und schließlich wollte es ihm nicht gelingen, sich aus seiner zerfetzten Hülle zu lösen und in einen neuen Körper überzuwechseln. Er konnte nicht sterben und wieder geboren werden.

Dabei fehlte es ihm nicht an neuen Gefäßen. Seit Tagen schon wurde Thomas von Frauen in allen Stadien von Schwangerschaft oder Mutterschaft umringt; die Luft war vom würzigen Duft ihrer Körper und ihrer Milch erfüllt. Sie trugen ihren Reichtum auf dem eigenen Leib zur Schau: Pokerchips aus Plastik und Münzen waren zu Halsketten zusammengenäht, bunte Bänder, Federn und Muscheln in die Haarsträhnen gewebt. Einige dieser Frauen waren mit getrocknetem Schlamm überzogen und sahen aus wie die zum Leben erwachte Erde selbst.