Ihr Warten war eine Art Totenwache, aber auch ein Warten auf die Geburt. Sie boten ihm die Frucht ihrer Leiber zu seinem Gebrauch dar. In der Hoffnung, seine Aufmerksamkeit zu erregen, wurden immer wieder Neugeborene vor ihm in die Luft gereckt. Der größte Wunsch einer jeden Mutter bestand darin, der Messias möge in ihr eigenes Kind fahren, auch wenn das bedeutete, dass die bereits darin befindliche, noch nicht vollständig ausgebildete Seele vertrieben wurde.
Doch Thomas hielt sich zurück. Er wusste nicht, was er tun sollte. Shoats Gegenwart erinnerte ihn pausenlos daran, dass ein Virus dort draußen lauerte und darauf wartete, sein Volk zu vernichten. Die Übernahme eines bereits entwickelten Bewusstseins bedeutete, den Verlust seiner eigenen Erinnerung aufs Spiel zu setzen. Doch was brachte es ihm andererseits, den Körper eines Säuglings zu besetzen, wenn er danach hilflos war, unfähig, sein Volk vor der drohenden Gefahr zu warnen? Er selbst hatte sich schon vor Monaten, nachdem die Existenz dieser PrionKapseln bekannt geworden war, zusammen mit January und Branch auf jenem Stützpunkt in der Antarktis gegen das Gift impfen lassen. Immerhin bot ihm dieser Körper, verwüstet und gelähmt wie er war, jetzt Schutz davor.
So lag er also in seinem Körper gefangen, der zugleich sein Grab war, und konnte sich nicht entscheiden. Der Tod bedeutete großes Leid. Doch wie Buddha einst sagte, bedeutete auch die Geburt großes Leid. Priester und Schamanen hatten sich um ihn versammelt und fuhren unermüdlich mit ihren Beschwörungen und ihrem Getrommel fort. Die Kinder weinten. Shoat wimmerte. Ein Stück weiter entfernt tippte Isaaks Tochter fasziniert auf dem Laptop herum, wie ein Affe auf einer Schreibmaschine.
Thomas schloss die Augen vor dem Albtraum, der er geworden war.
Nach einer Woche Aufstieg erreichten Ike und Ali das Ufer des Meeres. Das letzte Floß der Helios-Expedition dümpelte am Rand eines Überlaufs, von wo aus sich die Fluten in einem Wasserfall viele Kilometer in die Tiefe ergossen. Das Floß wartete treu wie ein Schlachtross und kreiselte in einem kleinen Strudel. An einem Schwimmer war sogar noch ein Paddel festgebunden.
»Steig ein«, flüsterte Ike, und Ali ließ sich dankbar auf dem Gummiboden des Floßes nieder. Seit ihrer Flucht hatte Ike sie beinahe ununterbrochen zur Eile angehalten. Zur Nahrungssuche war ihnen keine Zeit geblieben, und jetzt war Ali vom Hunger geschwächt.
Ike stieß das Floß vom Ufer ab.
»Erkennst du hier irgendetwas?«, fragte er sie.
Sie schüttelte den Kopf.
»Die Wege führen in alle Richtungen. Ich weiß nicht mehr genau, wo wir sind, Ali.«
»Vielleicht hilft uns das weiter«, erwiderte Ali, öffnete ein kleines Ledersäckchen, das sie an ihrer Hüfte trug und zog Shoats Peilgerät heraus.
»Du hast es ja wirklich gestohlen!«
»Walkers Leute haben Shoat immer wieder verprügelt. Ich dachte, sie schlagen ihn tot. Und ich dachte, dass uns das Ding eines Tages nützlich sein könnte.«
»Aber der Code ...«
»In seinem Delirium sagte er immer wieder eine Zahlenreihe auf. Ich weiß nicht, ob es der Code war oder nicht, aber ich habe sie mir jedenfalls gemerkt.«
Ike ging neben ihr in die Hocke. »Mal sehen, was passiert.«
Ali zögerte. Was, wenn nicht? Vorsichtig drückte sie die Tasten auf dem Nummernfeld und wartete. »Nichts.«
»Versuch es noch einmal.«
Diesmal blitzte ein rotes Lämpchen ungefähr zehn Sekunden lang auf. Das winzige Display verkündete: BEREIT. Nach einem kurzen hohen Piepton leuchtete das Wort ABGESCHICKT auf, woraufhin das rote Lämpchen wieder erlosch.
»Und jetzt?«, fragte Ali verzweifelt.
»Davon geht die Welt auch nicht unter«, meinte Ike und warf das Gerät ins Wasser. Dann zog er eine kleine Münze hervor, die er unterwegs gefunden hatte. Sie war sehr alt, mit einem Drachen auf der einen und einem chinesischen Schriftzeichen auf der anderen Seite. »Bei Kopf geht’s nach links, bei Schrift nach rechts«, sagte er und schnippte die Münze hoch.
Sie gingen fort vom schimmernden Wasser des Meeres und seiner Zuflüsse, hinein in eine tote Zone, die die beiden Welten voneinander trennte. Auf ihrer Fahrt von Galäpagos aus nach unten hatten sie diese Region umfahren, doch Ike kannte diese Barriere bereits von anderen Reisen. Sie lag zu tief, um eine auf Photosynthese basierende Nahrungskette zuzulassen, andererseits war sie noch so kontaminiert von der Oberfläche, dass auch die subplanetare Biosphäre hier keinen Fuß fassen konnte. Nur wenige Tierarten wanderten zwischen den beiden Welten, und keine davon rein zufällig. Nur die wirklich Verzweifelten wählten den Weg durch diese leblose, aus Röhren bestehende Wüste.
Ike führte sie wieder ein Stück aus der toten Zone heraus und fand eine Höhle, die Ali im Notfall alleine verteidigen konnte; dann ging er auf die Jagd. Nach einer Woche kam er mit langen Streifen getrockneten Fleisches zurück. Sie fragte nicht nach der Herkunft. Derart mit Proviant ausgerüstet, kehrten sie in die tote Zone zurück.
Ihr Vorankommen wurde von Blockaden aus Felsbrocken, Hadal-Fetischen und Fallen gebremst. Zusätzliche Schwierigkeiten bereitete der allzu rasche Aufstieg. Je mehr sie sich dem Meeresspiegel näherten, umso stärker nahm der Luftdruck zu. Physiologisch gesehen bestiegen sie einen Berg, weshalb auch einfaches Laufen zur Strapaze wurde. Sobald es steiler hinaufging und sie durch Schlote oder fast vertikale Tunnel klettern mussten, hatte Ali das Gefühl, als mussten ihre Lungen jeden Augenblick zerplatzen.
Eines Nachts fuhr sie hoch und schnappte verzweifelt nach Luft. Danach besann sich Ike auf eine uralte Regel aus dem Himalaya: hoch klettern, tief schlafen. Fortan stiegen sie bis zu einem hohen Punkt hinauf und kletterten zum Schlafen zwei- oder dreihundert Meter wieder hinab. Auf diese Weise entwickelte keiner von ihnen Lungenoder Hirnödeme. Trotzdem litt Ali unter Kopfschmerzen und wurde regelmäßig von Halluzinationen heimgesucht.
Sie wussten nicht, wie viel Zeit vergangen war oder wie rasch sie vorankamen. Ali empfand diese Unwissenheit als befreiend. Theoretisch konnte hinter jeder Wegbiegung das Sonnenlicht in der Ferne aufleuchten. Doch nach Tausenden von Kehren und Abzweigen, nach denen kein Ende in Sicht war, verlor auch diese Spannung ihren Reiz.
Als Nächstes hörte Thomas die Stille. Der Singsang, die Trommeln, das Gemurmel der Frauen: Alles verstummte. Sein Volk schlief, offensichtlich erschöpft von den Anstrengungen der Wache und der heiligen Rituale. Die Stille war eine Wohltat für die Ohren eines geschulten Mönchs.
Sei still, wollte er dem gekreuzigten Schwachkopf befehlen. Du weckst sie noch auf.
Erst dann vernahm er das Zischen und sah den feinen Nebel aus Shoats Laptop entweichen. Thomas saugte so viel Luft wie möglich in seine versengten Lungen und stieß sie dann in einem verzweifelten pfeifenden Krächzen wieder aus. Doch sein Volk wachte nicht mehr auf.
Voller Entsetzen starrte er Shoat an. Shoat nahm einen Bissen von dem Fleischfetzen neben seiner Wange und starrte zurück.
Ikes Bart wuchs. Alis goldfarbenes Haar reichte ihr fast bis zur Hüfte. Da sie schon zu Anfang ihrer Flucht kaum wussten, wo sie überhaupt waren, konnten sie auch nicht in die Irre laufen. Ali fand jeden Morgen Trost in ihren Gebeten, aber auch in der wachsenden Vertrautheit mit Ike. Sie träumte von ihm, selbst wenn sie in seinen Armen lag.
Eines Morgens wachte sie auf und fand Ike in der Lotusposition mit dem Gesicht zur Wand sitzend vor, beinahe so wie damals, als sie ihn noch kaum gekannt hatte. In der Dunkelheit der toten Zone erkannte sie das schwache Leuchten eines an die Felswand gemalten Kreises. Er hätte die bildliche Darstellung der Traumzeit eines australischen Ureinwohners oder ein prähistorisches Mandala sein können, aber nach den Erlebnissen in der Festung wusste sie, dass es sich um eine Landkarte handelte. Nachdem sie sich ebenfalls in eine versunkene Betrachtung hatte fallen lassen, nahmen die verschlungenen und einander überschneidenden Linien mit einem Mal eine neue Dimension an, bekamen Höhen, Tiefen und Richtungen. In den folgenden Tagen führte sie die Erinnerung an das Wandgemälde weiter nach oben.