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Abermals ließ sie den Blick über die Gesichter schweifen. Jimmy Shako, der Lagerälteste, fehlte. Ali war nicht aufgefallen, dass Jimmy Shako so krank gewesen war. Außerdem hielt sie ihn nicht für so großzügig, die Kolonie von seiner Gegenwart zu erlösen. »Mr. Shako fehlt«, sagte sie sachlich.

»Er ist weg«, nickte ihr Kokie zustimmend zu.

»Möge er in Frieden ruhen«, sagte Ali, hauptsächlich zu ihrer eigenen Beruhigung.

»Glaub ich nicht, Mutter. Für den gibt’s keinen Frieden. Wir haben ihn getauscht.«

»Was habt ihr getan?« Das war eine neue Variante.

»Dies für das. Wir haben ihn weggegeben.«

Mit einem Mal war Ali nicht mehr ganz so sicher, ob sie wirklich wissen wollte, was Kokie damit meinte. Es gab Zeiten, in denen sich Afrika ihr geöffnet und sie seine Geheimnisse kennen gelernt hatte. Dann wiederum, bei Gelegenheiten wie dieser, klafften seine Geheimnisse abgrundtief. Trotzdem fragte sie nach: »Was redest du da, Kokie?«

»Ihn. Für dich.«

»Für mich.« Alis Stimme klang in ihren eigenen Ohren leise und zerbrechlich.

»Jawohl, Mum. Dieser Mann war nicht gut. Sagte immer, er kommt und gibt dich nach unten. Aber wir haben ihn gegeben.«

Das Mädchen streckte die Hand aus und berührte zärtlich die Perlenkette um Alis Hals. »Jetzt ist alles wieder in Ordnung. Wir beschützen dich, Mutter.«

»Aber ... wem habt ihr Jimmy denn gegeben?« Etwas rauschte im Hintergrund. Ali erkannte, dass es die Kornblumen waren, die sich in der sanften Brise wiegten. Das Rascheln der Stängel hörte sich so gewaltig an wie Donnergrollen. Sie schluckte, um ihre trockene Kehle zu benetzen.

Kokies Antwort war einfach.

»Ihm«, sagte sie. Das Meeresrauschen der Kornblumen ging in das Motorengeräusch des näher kommenden Casspir über. Alis Zeit war gekommen.

»Älter-als-Alt, Mutter. Ihm.« Dann sprach sie einen Namen aus, der mehrere Schnalzlaute und ein Flüstern in diesem angehobenen Tonfall enthielt.

Ali starrte sie an. Kokie hatte gerade einen kurzen Satz auf Ur-Khoisan gesagt. Ali versuchte ihn laut nachzusprechen.

»Nein. So«, sagte Kokie und wiederholte die Worte und die Schnalzer. Diesmal machte es Ali richtig und übergab die Laute ihrem Gedächtnis.

»Was bedeutet das?«, fragte sie.

»Gott. Der hungrige Gott.«

Ali hatte geglaubt, sie kenne diese Leute, doch sie waren ganz anders. Sie nannten sie Mutter und sie hatte sie wie ihre Kinder behandelt, aber das waren sie nicht. Sie wich von Kokie zurück.

Der Ahnenkult bedeutete diesen Leuten alles. Wie die Römer des Altertums oder die heutigen Shinto unterwarfen sich die Khoikhoi in spirituellen Belangen ihren Toten. Sogar schwarze evangelische Christen glaubten an Geister, lasen aus Knochen die Zukunft, opferten Tiere, nahmen Zaubertränke, trugen Amulette und praktizierten gei-xa-Magie. Die Lobedu hatten ihre Regenkönigin Mujaji. Die Pedi beteten Kgobe an. Für die Zulu hing die Welt von einem allmächtigen Wesen ab, dessen Name übersetzt Älter-als-Alt bedeutete. Und jetzt hatte Kokie genau diesen Namen in dieser Ursprache ausgesprochen. In der Muttersprache.

»Ist Jimmy tot oder nicht?«

»Kommt drauf an, Mutter. Wenn er gut ist, lassen sie ihn da unten leben. Sehr lange.«

»Ihr habt Jimmy getötet?«, fragte Ali entsetzt.

»Nicht getötet. Nur ein bisschen geschnitten.«

»Ihr habt was getan?«

»Nicht wir«, sagte Kokie.

»Älter-als-Alt?« Ali versuchte sich an dem Namen mit den Schnalzlauten.

»Ja, genau. Den Mann geschnitten. Und uns dann die Teile gegeben.«

Ali fragte nicht weiter nach, was Kokie damit meinte. Sie hatte auch so schon genug gehört.

Kokie legte den Kopf zur Seite, und auf ihrem erstarrten Lächeln zeichnete sich ein Anflug von Zufriedenheit ab. Einen Augenblick lang sah Ali die ungelenke Halbwüchsige vor sich stehen, die ihr mit der Zeit so sehr ans Herz gewachsen war, das Mädchen mit dem besonderen Geheimnis. Jetzt verriet sie es.

»Mutter«, sagte Kokie, »ich habe zugeschaut. Ich habe alles gesehen.«

Ali wollte weglaufen. Ob unschuldig oder nicht, dieses Kind war ein Unhold.

»Auf Wiedersehen, Mutter.«

Bringt mich weg, dachte sie. So ruhig wie es ihr unter diesen Umständen möglich war, drehte sich Ali um und wollte mit tränenblinden Augen von Kokie weggehen.

Plötzlich war ihr der Weg versperrt. Eine Wand aus großen Männern. Tränenblind setzte sich Ali gegen sie zur Wehr, schlug mit Fäusten und Ellbogen um sich. Dann wurden ihre Arme von jemand sehr Kräftigem an ihren Körper gedrückt.

»Langsam, langsam, immer mit der Ruhe«, sagte eine Männerstimme. »Was soll der Unsinn?«

Ali sah auf und blickte in das Gesicht eines Weißen mit von der Sonne verbrannten Wangen und der gelbbraunen Buschmütze der Armee. Im Hintergrund brummte der Casspir im Leerlauf, eine dumpfe Maschine mit schaukelnder Funkantenne und aufgesetztem Maschinengewehr. Kniende und hockende Soldaten sicherten schussbereit nach allen Seiten. Sie hörte auf, sich zu wehren.

Kurz darauf wehte die rote Staubfahne des Transporters wie ein flüchtiger Sturm über den freien Platz. Ali drehte sich noch einmal um, doch die Aussätzigen hatten sich bereits im dornigen Unterholz verkrochen. Bis auf die Soldaten war sie ganz allein in diesem Mahlstrom.

»Sie haben ziemliches Glück gehabt, Schwester«, sagte der Soldat. »Die Kaffern wetzen wieder ihre Speere.«

»Was?«

»Ein Aufstand. Irgendeine Kaffern-Sekte oder so was. In der vergangenen Nacht haben sie Ihren Nachbarn überfallen, und auch die übernächste Farm. Wir kommen direkt von dort. Alle tot.«

»Ihre Tasche?«, fragte ein anderer Soldat. »Steigen Sie ein. Wir befinden uns hier in großer Gefahr.«

Schockiert ließ sich Ali von ihnen in das schwülheiße Innere des Vehikels schieben. Nach ihr kamen die Soldaten herein, sicherten die Gewehre und verschlossen die Luken. Der Geruch ihrer Körper unterschied sich deutlich von dem der Aussätzigen. Angst war das vorherrschende Element darin. Sie hatten auf eine Weise Angst, die den Aussätzigen fremd war. Es war die Angst von Beutetieren. Der Transporter rumpelte los, und Ali wurde gegen eine breite Schulter geschleudert.

»Souvenir?«, fragte jemand. Er zeigte auf ihre Perlenhalskette.

»Ein Geschenk«, antwortete Ali. Sie hatte gar nicht mehr daran gedacht.

»Geschenk!«, stieß ein anderer Soldat hervor. »Wie niedlich.«

Ali legte die Hand schützend an die Kette und fuhr mit den Fingerspitzen über die kleinen Perlen, die das schwarze Lederstück einrahmten. Die Tierhärchen kitzelten sie an den Fingern.

»Sie haben wohl keine Ahnung, was?«, sagte ein Mann.

»Wie bitte?«

»Diese Haut.«

»Was ist damit?«

»Männlich, oder was meinst du, Roy?«

»Aber sicher«, antwortete Roy grinsend.

Ali verlor die Geduld mit ihnen. »Was soll der Blödsinn?«

Woraufhin die Männer laut loslachten. Sie besaßen einen groben, gewalttätigen Humor, was Ali nicht sehr erstaunte.

Jetzt tauchte ein Gesicht aus der Dunkelheit auf. In seinen Augen spiegelte sich das durch den Geschützschlitz hereinfallende Licht. Vielleicht war er ein guter katholischer Junge. Aber wie auch immer, er schien nicht sehr amüsiert zu sein. »Das ist ein Geschlechtsteil, Schwester. Von einem Menschen.«

Alis Fingerspitzen erstarrten. Dann war es an ihr, sie zu schockieren. Alle erwarteten, dass sie sich den Talisman kreischend vom Hals riss. Stattdessen setzte sie sich auf, lehnte den Hinterkopf an die Stahlwand, schloss die Augen und ließ den Talisman, der sie gegen das Böse schützte, über ihrem Herzen hin und her schaukeln.