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Da sprach der Herr:

Mein Geist soll nicht immerdar

im Menschen walten,

denn auch der Mensch ist Fleisch.

GENESIS, 6:3

3 Branch

CAMP MOLLY, OSKOVA, BOSNIEN-HERZEGOWINA NATO FRIEDENSTRUPPEN (IFOR)

FIRST AIR CAVALRY / U.S. ARMY 1996

02.10 Uhr

Es regnete. Straßen und Brücken waren weggeschwemmt, die Flüsse blockiert. Sämtliche Einsatzkarten mussten neu geschrieben werden. Überall steckten Fahrzeugkonvois fest. Erdrutsche spülten lauernde Minen auf Landstraßen, die eben erst mühsam geräumt worden waren.

Wie der auf dem Berggipfel gestrandete Noah hockte Camp Molly hoch über einem Staatenbund aus Schlamm und Dreck. Seine Sünder waren ruhig gestellt, die Welt fürs Erste in Schach gehalten. Bosnien, fluchte Branch. Armes Bosnien.

Der Major eilte über einen Bohlenweg, der wie im wilden Westen durch den Schlamm gelegt worden war, damit wenigstens die Stiefel sauber und trocken blieben. Wir stehen Wacht gegen ewige Dunkelheit, geleitet von unserer Rechtschaffenheit. Es war das große Mysterium in Branchs Leben, dass er zweiundzwanzig Jahre, nachdem er St. John’s entkommen war, um Hubschrauber zu fliegen, immer noch an so etwas wie Erlösung glauben konnte.

Suchscheinwerfer geisterten durch schlampig aufgestellte Stacheldrahtverhaue, über Panzersperren, Minen und noch mehr Stacheldraht. Die schweren Panzerfahrzeuge der Kompanie hielten ihre Kanonen und Maschinengewehre auf die fernen Hügel gerichtet. Die Dunkelheit verwandelte die Rohre der Raketenwerferbatterien in Orgelpfeifen barocker Kathedralen. Branchs Hubschrauber schimmerten wie große, vom frühen Wintereinbruch überraschte Libellen im Regen.

Branch konnte das Lager um sich herum spüren, seine Abgrenzungen, seine Wachtposten. Er wusste, dass die Wachen diese schlimme Nacht in Schutzpanzern ertragen mussten, die zwar die Kugeln von Heckenschützen, aber nicht den Regen abhielten. Er fragte sich, ob die Kreuzritter, die hier auf ihrem Weg nach Jerusalem durchgezogen waren, ihre Kettenhemden ebenso gehasst hatten wie diese Ranger ihr Kevlar. Jede Festung ein Kloster, bestätigte ihm ihre Wachsamkeit, jedes Kloster eine Festung.

Obwohl es offiziell keinen Feind für sie gab, waren sie von Feinden umgeben. Zwar ging die Zivilisation in Elendslöchern wie Mogadischu, Kigali und Port au Prince im großen Stil den Bach runter, aber die »neue« Armee war an einen strikten Befehl gebunden: Du sollst keinen Feind haben. Keine Verluste, kein Geländegewinn. Man besetzte einen sicheren Standort, und zwar genau so lange, wie die Politfritzen brauchten, um kräftig mit den Säbeln zu rasseln und sich wieder wählen zu lassen. Und dann ging es sofort ab zum nächsten hoffnungslosen Fall. Die Landschaften veränderten sich. Der Hass blieb überall der gleiche. Beirut. Irak. Somalia. Hatai. Seine Akte las sich wie eine Verwünschung. Und jetzt das hier. Das Dayton-Abkommen hatte diesen geographischen Kunstgriff namens Separationszone zwischen Muslimen, Serben und Kroaten geschaffen. Wenn sie dieser Regen voneinander abhielt, dann hoffte er, er würde niemals aufhören.

Im Januar, als die First Air Cavalry auf einer Pontonbrücke über die Drina herübergekommen war, hatten sie ein Land vorgefunden, das an die aufgewühlten Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges erinnerte. Die Felder, auf denen wie Soldaten drapierte Vogelscheuchen flatterten, waren kreuz und quer von Schützengräben durchzogen. Schwarze Raben befleckten den weißen Schnee. Skelette knackten unter den Rädern ihrer Jeeps. Aus den zerschossenen Häusern tauchten Menschen auf, die mit Steinschlossgewehren, manchmal sogar mit Armbrüsten und Speeren bewaffnet waren. Die Stadtguerilla grub ihre eigenen Rohrleitungen aus, um daraus Waffen zu bauen. Branch verspürte nicht die geringste Lust, sie zu retten, denn sie waren brutal und grausam und wollten nicht gerettet werden.

Jetzt hatte er den Kommandobunker erreicht, in dem Stab und Nachrichtenzentrale untergebracht waren. Einen Moment lang ragte der Erdhügel im dunklen Regen wie ein halb fertiger Zikkurat vor ihm auf, primitiver noch als die ersten ägyptischen Pyramiden. Er erklomm ein paar Stufen und stieg dann steil zwischen aufgestapelten Sandsäcken hinab. Drinnen reihten sich an der gegenüberliegenden Wand elektronische Konsolen aneinander. Davor saßen uniformierte Männer und Frauen, die Gesichter von den Bildschirmen ihrer Laptops gespenstisch angestrahlt. Die Deckenbeleuchtung war wegen der besseren Lesbarkeit der Bildschirme reduziert.

Das Publikum bestand aus ungefähr drei Dutzend Leuten. Es war ziemlich früh und kalt für eine solche Zusammenkunft. Unablässig prasselte der Regen gegen die Gummilappen des Eingangs schräg hinter ihm.

»Hallo, Major, herzlich willkommen. Hier, ich dachte mir gleich, dass das für jemanden reserviert ist.«

Branch sah die Tasse heißer Schokolade auf sich zukommen und wehrte sie mit gekreuzten Fingern ab. »Weiche, Satanas«, sagte er, nur halb im Scherz. Die Versuchung lag in den kleinen Dingen. Es war absolut möglich, direkt an der Front zu verweichlichen, insbesondere in einem Kampfgebiet, das so hervorragend versorgt wurde wie das hier in Bosnien. Im Geiste der Spartaner wies er auch die Doritos zurück.

»Hat sich schon was getan?«, erkundigte er sich.

»Nicht die Bohne.« Mit einem gierigen Schluck machte McDaniels Branchs Kakao zu seinem Eigentum.

Branch blickte auf die Uhr. »Vielleicht ist die Sache damit gegessen. Vielleicht ist ja überhaupt nichts geschehen.«

»Oh, Ihr, die Ihr schwachen Glaubens seid«, sagte der dürre Kampfhubschrauberpilot. »Ich hab’s mit eigenen Augen gesehen, so wie wir alle.«

Alle bis auf Branch und seinen Kopiloten Ramada. Sie hatten die letzten drei Tage damit verbracht, den Südteil des Landes auf der Suche nach einem vermissten Konvoi des Roten Halbmonds zu überfliegen. Sie waren hundemüde zu dieser mitternächtlichen Veranstaltung zurückgekehrt. Ramada war schon da und überflog auf einem nicht benötigten Bildschirm eifrig seine E-Mails von zu Hause.

»Warte, bis du die Bandaufnahmen gesehen hast«, sagte McDaniels. »Komisches Zeugs. Drei Nächte hintereinander. Gleiche Zeit. Gleicher Ort. Inzwischen schon fast eine angesagte Nummer. Wir sollten Eintrittskarten verkaufen.«

Es gab nur Stehplätze. Nur wenige Soldaten saßen hinter ihren Computerplätzen, die mit der Eagle-Basis unten in Tusla vernetzt waren. Am heutigen Abend bestand die Mehrheit aus Zivilisten mit Pferdeschwänzen, üblen Ziegenbärtchen oder T-Shirts mit Aufdrucken wie ICH ÜBERLEBTE OPERATION JOINT ENDEAVOUR oder BEAT ALL THAT YOU CAN BEAT, worunter natürlich mit Leuchtmarker MEAT gekritzelt stand.

Branch ließ den Blick über die Gesichter wandern. Viele von ihnen kannte er. Einige konnten sich einen Dr. oder Prof. vor den Namen klemmen. Alle rochen nach Grab. In Einklang mit dem surrealen Alltag in Bosnien hatten sie sich selbst den Namen Zauberer gegeben, Zauberer wie in Oz. Das UN-Kriegsverbrechertribunal hatte gerichtsmedizinische Ausgrabungen an Hinrichtungsstätten in ganz Bosnien angeordnet. Die Zauberer waren ihre Totengräber. Tagein, tagaus bestand ihre Aufgabe darin, die Toten sprechen zu lassen. Da die meisten Massaker im amerikanisch kontrollierten Sektor auf das Konto der Serben gingen, die jeden dieser professionellen Spürhunde sofort umgebracht hätten, hatte Colonel Frederickson beschlossen, die Zauberer im Militärlager unterzubringen. Die Leichen selbst wurden in einer ehemaligen Kugellagerfabrik am Stadtrand von Kalejisa aufbewahrt.

Die Anwesenheit des Wissenschaftlervölkchens hatte sich als ziemlich anstrengend herausgestellt. Zunächst gingen die Respektlosigkeit, die Scherze und die Pornofilme der Zauberer als willkommene Abwechslung durch, doch im Laufe des Jahres waren sie zu einer ausgenudelten Blödelklamotte heruntergekommen. Sie futterten mit größter Begeisterung ungenießbare Fertignahrung und tranken den gesamten Vorrat an Cola-light weg.