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Mit dem miesen Wetter war alles noch schlimmer geworden. In den vergangenen beiden Wochen hatte sich die Anzahl der Wissenschaftler verdreifacht. Jetzt, nachdem die Wahlen in Bosnien vorüber waren, nahm die IFOR ihre Präsenz nach und nach zurück. Die Soldaten durften wieder nach Hause, ganze Camps wurden geschlossen. Die Zauberer verloren ihren bewaffneten Geleitschutz. Sie wussten, dass sie ohne Schutz nicht bleiben konnten. Eine große Anzahl von Massengräbern und Massakern würde unentdeckt bleiben.

In ihrer Verzweiflung hatte Christie Chambers, Dr. med., einen Aufruf über das Internet losgelassen. Von Israel bis Spanien, von Australien bis Seattle hatten Archäologen ihre Schaufeln fallen gelassen, Labortechniker unbezahlten Urlaub genommen, Ärzte ihren Tennisurlaub abgebrochen und Professoren ihre besten Studenten losgeschickt, damit die Exhumierungen weitergeführt werden konnten. Ihre eilig zusammengeschusterten ID-Marken lasen sich wie ein Who-is-Who der Nekro-Wissenschaften. Alles in allem, das musste Branch zugeben, waren sie nicht die schlechteste Gesellschaft, wenn man auf einer einsamen Insel wie Camp Molly gestrandet war.

»Verbindung steht«, verkündete Sergeant Jefferson von ihrem Bildschirm.

Der ganze Raum schien den Atem anzuhalten. Hinter ihm bildete sich eine Traube. Alle wollten sehen, was KH-12, der Spionagesatellit, zeigte. Links und rechts flimmerte auf sechs Bildschirmen das gleiche Bild.

McDaniels, Ramada und drei weitere Piloten kauerten vor einem eigenen Schirm. »Branch«, sagte einer, woraufhin sie ihm eilig Platz machten.

Der Bildschirm war prächtig mit lindgrüner Geographie überzogen. Ein Computer legte eine geisterhafte Landkarte über das Satellitenbild und die Radardaten.

»Zulu Vier.« Ramada zeigte zuvorkommend mit seinem Kugelschreiber auf einen bestimmten Punkt.

Direkt unter seinem Stift geschah es wieder. Das Satellitenbild blühte in einem rosafarbenen Hitzeausbruch auf.

Die Sergeantin markierte das Bild und gab eine andere Suchmaske ein. Die Darstellung wechselte von Wärmestrahlen zu einer anderen Strahlung. Die gleichen Koordinaten, nur andere Farben. Dann arbeitete sie sich methodisch durch mehrere weitere Variationen des gleichen Themas. Am Bildschirmrand sammelten sich kleine Aufnahmen säuberlich in einer Reihe untereinander, bei denen es sich um PowerPoint-Dias handelte, visuelle Situationsberichte aus vorangegangenen Nächten. In der Bildschirmmitte war die Realzeit zu sehen. »SLR. Jetzt UV«, kommentierte Jefferson. Mit ihrer tiefen Altstimme hätte sie Gospels singen können. »Das dort ist Spectro. Gamma.«

»Halt! Sehen Sie’s?« Eine helle Lichtpfütze breitete sich in Zulu Vier aus.

»Und was zum Teufel bedeutet das?«, raunzte einer der Zauberer am Bildschirm direkt neben Branch. »Was sind das für Messwerte? Strahlung, Chemikalien, oder was?«

»Stickstoff«, erwiderte sein fetter Nachbar. »Genau wie in der letzten Nacht. Und in der vorletzten.«

Branch lauschte ihrer Unterhaltung. Ein anderes Wunderkind pfiff durch die Zähne. »Seht euch nur diese Konzentration an. Normalerweise sind in der Atmosphäre so an die achtzig Prozent Stickstoff, stimmt’s?«

»Achtundsiebzigkommazwo.«

»Hier haben wir es mit fast neunzig zu tun.«

»Es verändert sich. In den letzten beiden Nächten hatten wir beinahe sechsundneunzig Prozent. Aber dann wird es immer weniger. Bei Sonnenaufgang ist es kaum mehr über normal.«

Branch bemerkte, dass er nicht der Einzige war, der die Ohren spitzte. Auch seine Piloten hatten die Lauscher aufgestellt, den Blick fest auf die Monitore gerichtet.

»Ich kapier das nicht«, sagte ein junger Kerl mit Aknenarben im Gesicht. »Wo kommt dieser ganze Stickstoff her?«

Branch wartete das allgemeine Schweigen ab. Vielleicht hatten die Zauberer ja eine Antwort parat.

»Ich sag’s euch doch schon die ganze Zeit, Leute.«

»Hör schon auf, Barry, und verschone uns mit deinem Schwachsinn.«

»Aber ich sage euch doch, dass ...«

»Erzählen Sie es mir«, sagte Branch. Drei Brillen wandten sich zu ihm um.

Der junge Bursche namens Barry schien sich nicht wohl in seiner Haut zu fühlen. »Ich weiß, es hört sich verrückt an. Aber ... es sind die Toten. Das alles ist kein großes Geheimnis. Organische Stoffe zerfallen. Totes Gewebe setzt Ammoniak frei. Und das ergibt, falls ihr das vergessen habt, Stickstoff.«

»Und dann oxidiert Nitrosomonas das Ammoniak zu Nitrat. Und Nitrobacter oxidiert das Nitrat zu anderen Nitraten.« Der fette Nachbar leierte seinen Text wie von einer Schallplatte herunter. »Die Nitrate werden von Grünpflanzen aufgenommen. Mit anderen Worten: der Stickstoff taucht niemals an der Erdoberfläche auf. Es muss sich um etwas anderes handeln!«

»Du redest von nitrierenden Bakterien, aber wie du sicherlich weißt, gibt es auch denitrierende Bakterien. Und die dringen auch nach oben durch.«

»Wollen wir doch einfach festhalten, dass der Stickstoff von der Verwesung herrührt«, sagte Branch zu dem Burschen namens Barry. »Das liefert uns trotzdem keine Erklärung für eine derartige Konzentration, oder?«

Barry holte weit aus. »Es gab Überlebende«, erklärte er. »Es gibt immer Überlebende. Von ihnen wissen wir, wo wir überhaupt graben müssen. Drei von ihnen sagten, dass es sich hier um eine der großen Hinrichtungsstätten handelt, die in einem Zeitraum von mehr als elf Monaten benutzt wurde.«

»Ich höre«, sagte Branch, der nicht genau wusste, worauf die Ausführungen abzielten.

»Wir haben dreihundert Leichen dokumentiert, aber es gibt noch mehr. Vielleicht eintausend. Vielleicht noch viel mehr. Allein aus Srebrenica gibt es noch fünf- bis siebentausend ungeklärte Fälle. Wer weiß, was wir unter dieser obersten Schicht finden? Wir waren gerade dabei, Zulu Vier zu öffnen, als uns der Regen in die Quere kam.«

»Elender Regen!«, fluchte die Brille zu seiner Linken.

»Das sind ziemlich viele Leichen«, sagte Branch geduldig.

»Genau. Ziemlich viele Leichen. Ziemlich viel Verwesung. Ziemlich viel Ausstoß von Stickstoff.«

»Alles Blödsinn.« Der Fette wandte sich jetzt mit mitleidigem Kopfschütteln an Branch. »Barry sieht schon wieder Gespenster. Der Körper des Menschen besteht nur zu drei Prozent aus Stickstoff, sagen wir also drei Kilogramm pro Person. Macht zusammen 15 000 Kilo. Die rechnen wir in Liter und dann in Kubikmeter um. Das reicht höchstens aus, um einen Würfel von dreißig Metern Kantenlänge zu füllen. Wir haben es hier jedoch mit wesentlich mehr Stickstoff zu tun, der zudem jede Nacht austritt und gegen Morgen wieder verschwindet. Es muss sich um etwas anderes handeln.«

Branch lächelte nicht. Seit Monaten musste er mit ansehen, wie sich die Leichenexperten gegenseitig makabre Streiche spielten, angefangen von dem Totenschädel im Telefonzelt bis zu oberschlauen Wortgefechten wie diesem Kannibalengeschwätz hier. Sein Unverständnis hatte weniger mit ihrem Geisteszustand, als mit dem Empfinden seiner eigenen Leute für Recht und Unrecht zu tun. Über den Tod machte man keine dummen Witze.

Er sah Barry fest in die Augen. Der Bursche war nicht dumm. Er hatte darüber nachgedacht. »Wie erklären sich die Veränderungen?«, wollte Branch wissen. »Wie lässt sich das Ansteigen und Abklingen des Stickstoffgehalts durch die Verwesung erklären?«

»Was ist, wenn die Ursache regelmäßig wiederkehrt? Wenn die Überreste durcheinandergewühlt werden, aber nur zu bestimmten Stunden?«

»Blödsinn.«

»Immer mitten in der Nacht.«

»Blödsinn.«

»Wenn sie logischerweise annehmen, wir könnten sie nicht sehen?«