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Wie zur Bestätigung von Barrys Theorie bewegte sich der Fleck auf dem Bildschirm abermals.

»Was zum Teufel ...!«

Branch löste sich von Barrys ernstem Blick und schaute auf den Bildschirm. Das Telefoto sprang in peristaltischen Zuckungen dichter ans Geschehen heran. »Näher geht’s nicht«, sagte der Captain. »Das sind zehn Quadratmeter.«

Man konnte die kreuz und quer durcheinander liegenden Knochen im Negativ erkennen. Hunderte menschlicher Skelette stapelten sich dort in einer riesigen, unkoordinierten Umarmung.

»Warte mal ...«, murmelte McDonald, »seht doch ...«

Branch konzentrierte sich auf den Bildschirm. »Da.« Es sah aus, als hätte sich der Leichenberg von unten her bewegt.

»Diese verdammten Serben«, fluchte McDaniels. Niemand widersprach seiner Einschätzung. In letzter Zeit benahmen sich die Serben so, als könnten sie tun und lassen, was sie wollten. Jede Seite hatte im Namen Gottes oder der Geschichte oder im Namen nationaler Grenzen oder der Rache die entsetzlichsten Gräueltaten begangen. Aber besonders die Serben waren dafür bekannt, dass sie sich Mühe dabei gaben, ihre Sünden zu vertuschen. Bis zum Eintreffen der First Air Cavalry hatten die Serben längst überall Massengräber ausgehoben, die Überreste ihrer Opfer in Bergwerksschächte geworfen oder mit schwerem Gerät zu Dünger zerschrotet.

»Also was jetzt, Bob?«

Branch blickte auf, weniger irritiert von der Stimme, als von ihrer Unverfrorenheit in Anwesenheit Untergebener. Denn Bob war der Colonel. Was wiederum nur heißen konnte, dass die fragende Stimme Maria-Christina Chambers gehörte, der Königin der Leichenfledderer. Branch hatte sie nicht bemerkt, als er den Raum betreten hatte.

Chambers war Professorin für Pathologie an der Oklahoma University, befand sich gerade in ihrem Sabbatjahr und verfügte über genügend graues Haar und einflussreiche Vorfahren, um in jeder Gesellschaft Zutritt zu haben. Als Krankenschwester in Vietnam hatte sie an mehr Kampfeinsätzen als die meisten Green Berets teilgenommen. Der Legende zufolge hatte sie sich bei der Tet-Offensive sogar selbst ein Gewehr geschnappt. Sie verabscheute Mikrowellenfraß, schwor auf Coors-Bier und benahm sich auch sonst gerne so ungehobelt wie ein Bauernbursche aus Kansas. Die Soldaten mochten sie. Branch war da keine Ausnahme. Auch der Colonel kam gut mit ihr aus. Nicht jedoch, was diese Angelegenheit anging.

»Sollen wir schon wieder vor diesen Scheißkerlen kuschen?«

Es wurde so still im Raum, dass Branch Finger über die Tastatur laufen hörte.

»Dr. Chambers ...«, versuchte ein Corporal zu vermitteln.

»Klappe!«, zischte ihn Chambers an. »Ich rede gerade mit deinem Boss.«

»Christie«, flehte sie der Colonal an.

Chambers ließ sich an diesem Morgen gar nichts bieten. Man musste ihr jedoch hoch anrechnen, dass sie diesmal unbewaffnet war, nicht einmal ein Reagenzglas stand in Reichweite. Sie schleuderte wütende Blicke um sich.

»Kuschen?«, fragte der Colonel.

»Genau.«

»Was sollen wir denn sonst tun, Christie?«

Jedes schwarze Brett im Camp war dienstbeflissen mit dem von der NATO herausgegebenen Steckbrief bestückt, den die Gesichter der fünfundvierzig Männer zierten, die der schlimmsten Kriegsverbrechen angeklagt waren. Die Einsatztruppen der IFOR hatten den Auftrag, jeden dieser Männer bei Antreffen sofort festzunehmen. Wundersamerweise hatte die IFOR es in neun Monaten trotz groß angelegter Geheimdienstunterstützung nicht geschafft, auch nur einen von ihnen aufzuspüren. Wie allgemein bekannt war, hatte die IFOR sogar mehr als einmal in die andere Richtung geschaut, um nicht mitanzusehen, was sich direkt vor ihren Augen abspielte. Man hatte seine Lektion aus Somalia gelernt. Dort waren bei der Jagd auf einen Tyrannen vierundzwanzig Angehörige eines Kommandotrupps in einen Hinterhalt geraten, abgeschlachtet und an den Füßen hinter Armeelastwagen herbeigeschleift worden. Branch selbst war dem Tod in jener Gasse nur um wenige Minuten entronnen.

Hier ging es in erster Linie darum, jeden einzelnen Soldaten heil und gesund bis Weihnachten nach Hause zurückzubringen. Selbstschutz war angesagt. Selbst um den Preis wichtiger Beweise. Selbst um den Preis der Gerechtigkeit.

»Ihr wisst nicht, was sie da treiben«, sagte Chambers.

Das Knochenfeld tanzte in dem schillernden Stickstoffflecken.

»Nein, wissen wir nicht.«

Chambers ließ sich nicht einschüchtern. Sie war einfach großartig »Ich werde nicht zulassen, dass sich in meiner Gegenwart irgendwelche Abscheulichkeiten abspielen«, zitierte sie dem Colonel. Sie zog ihre Argumentation sehr geschickt auf, indem sie verkündete, dass sie und die Wissenschaftler in ihrer Abscheu nicht allein standen. Das Zitat stammte von der Truppe des Colonels selbst. In den ersten vier Wochen ihres Einsatzes in Bosnien war eine Patrouille Zeuge einer Vergewaltigung geworden. Man hatte den Soldaten befohlen, sich nicht von der Stelle zu rühren und nicht einzugreifen. Der Zwischenfall hatte sich rasch herumgesprochen. Aufgebrachte einfache Soldaten hatten sich in diesem und in anderen Camps geschworen, sich fortan nach ihrem eigenen Verhaltenscodex zu richten. Vor hundert Jahren hätte jede Armee der Welt angesichts dieser Unverschämtheit sofort zur Peitsche gegriffen. Zwanzig Jahre zuvor hätte der Chef der Militärgerichtsbarkeit ein paar Köpfe rollen lassen. Doch in der modernen Freiwilligenarmee ging so etwas unter der Rubrik »Regel Sechs« als Initiative von unten durch.

»Ich sehe nirgendwo Gräueltaten«, sagte der Colonel. »Ich sehe keine Serben herumhantieren und auch sonst kein menschliches Tun. Es könnte sich ebenso gut um Tiere handeln.«

»Verdammt noch mal, Bob!« Sie hatten das alles schon ein Dutzend Mal durchgekaut, wenn auch nicht in aller Öffentlichkeit.

»Meine Leute haben Zulu Vier lokalisiert, das Massengrab geöffnet und fünf wertvolle Tage damit zugebracht, die oberste Leichenschicht auszugraben, bevor uns dieser elende Regen zwang, die Arbeit einzustellen. Es handelt sich um den Schauplatz des bei weitem größten Massakers. Dort liegen mindestens noch achthundert Leichen. Bis jetzt ist unsere Dokumentation tadellos gewesen. Die Beweise, die uns Zulu Vier liefert, dürften die schlimmsten Übeltäter überführen - aber nur, wenn wir unsere Arbeit beenden können. Ich bin nicht bereit zuzulassen, dass sie von Hyänen in Menschengestalt zunichte gemacht wird. Ein Massaker anzurichten ist schon schlimm genug, aber anschließend auch noch die Leichen zu fleddern? Es ist eure verdammte Aufgabe, diesen Ort zu schützen!«

»Nein, das ist nicht unsere Aufgabe«, erwiderte der Colonel. »Wir müssen hier keine Gräber bewachen.«

»Die Menschenrechte hängen davon ab, dass ...«

»Die Menschenrechte sind nicht unsere Aufgabe.«

Plötzlich wirbelte ein Schwall atmosphärischen Knisterns herein, einzelne Worte wurden verständlich, dann war alles wieder still.

»Ich sehe ein Grab, das seit zehn Tagen strömendem Regen ausgesetzt ist«, fuhr der Colonel fort. »Ich sehe die Natur am Werk, und sonst nichts.«

»Lass uns sicher gehen, wenigstens dieses eine Mal.« Chambers blieb hartnäckig. »Mehr verlange ich nicht.«

»Nein.«

»Einen Hubschrauber. Eine Stunde.«

»Bei dem Wetter? Nachts? Sieh dir die Gegend doch an! Alles voller Stickstoff!«

Die elektrische Einfärbung auf allen sechs Bildschirmen pulsierte im Gleichtakt. Ruhet in Frieden, dachte Branch. Aber die Knochen bewegten sich schon wieder.

»Direkt vor euren Augen ...«, murmelte Christie.

Mit einem Mal fühlte sich Branch überwältigt. Es kam ihm geradezu obszön vor, dass diese Menschen der einzigen Geborgenheit, die ihnen geblieben war, beraubt werden sollten. Auf Grund der schrecklichen Art und Weise, auf die sie ums Leben gekommen waren, waren diese Toten dazu verurteilt, von der einen oder anderen Partei zurück ans Tageslicht gezerrt zu werden, und das womöglich immer wieder. Wenn nicht von den Serben, dann von Chambers und ihren Bluthunden. In diesem grauenhaften Zustand würden sie ihre Angehörigen noch einmal sehen, und der Anblick würde sie bis ans Ende ihrer Tage heimsuchen.