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Bis auf seine Stiefel war Ramada völlig nackt. Er blutete am ganzen Körper, sah wie ein gerade eben ausgepeitschter Sklave aus. An seinen Fußknöcheln zog er irgendwelche Fetzen hinter sich her. Waren das die Serben, fragte sich Branch verwundert. Er erinnerte sich an den aufgebrachten Pöbel in Mogadischu, an die toten Ranger, die man wie den gefällten Achilles hinter den Lastwagen hergeschleift hatte. Aber eine derartige Grausamkeit verlangte eine gewisse Zeit und Hingabe, doch seit ihrem Absturz waren zehn, höchstens fünfzehn Minuten vergangen. Vielleicht rührten die Verletzungen ja vom Absturz her, überlegte er, vom geborstenen Plexiglas. Was sonst hätte ihn so schrecklich zerfetzen können?

»Bobby«, rief er leise.

Roberto Ramada hob den Kopf.

»Nein!«, entfuhr es Branch.

»Was geht dort vor, Major? Over.«

»Seine Augen«, sagte Branch. Sie hatten ihm seine Augen genommen.

»Wir verlieren Sie . Tango .«

»Wiederholen bitte, wiederholen .«

»Seine Augen sind weg.«

»Wiederholen bitte, Augen sind .«

»Diese Drecksäcke haben ihm die Augen rausgerissen.«

Einige Sekunden herrschte Stille. Dann meldete sich die Basis wieder: ». neue Sichtung, Echo Tango Eins. Haben Sie verstanden?«

Macs Cyberstimme meldete sich wieder: »Wir haben hier mehrere Gestalten auf dem Schirm, Major. Fünf Wärmequellen. Zu Fuß. Nähern sich Ihrer Position.«

Branch hörte ihm kaum zu. Ramada kam stolpernd heran, als machten ihm ihre Laserstrahlen schwer zu schaffen. Jetzt wurde Branch die Sache allmählich klar. Ramada hatte versucht, durch den Wald zu fliehen, aber nicht die Serben hatten ihn zur Umkehr gezwungen. Der Wald selbst hatte ihm den Durchgang verwehrt.

»Tiere«, murmelte Branch.

»Wiederholen Sie bitte, Major.«

Wilde Tiere. An der Schwelle zum 21. Jahrhundert war Branchs Navigator soeben von wilden Tieren bei lebendigem Leib halb aufgefressen worden. Der Krieg hatte aus Haustieren wilde Tiere gemacht. Raubtiere waren aus Zoos und Zirkussen entflohen und durchstreiften die Wildnis. Die Anwesenheit wilder Tiere überraschte Branch nicht. Die verlassenen Kohlenschächte in der Umgebung boten ihnen einen hervorragenden Unterschlupf. Aber welches Tier riss seinem Opfer die Augen aus? Krähen vielleicht, die allerdings nicht in der Nacht, jedenfalls hatte Branch davon noch nie etwas gehört. Oder Eulen? Aber doch sicher nicht, solange die Beute noch am Leben war?

»Echo Tango Eins .«

»Bobby«, sagte Branch noch einmal.

Ramada drehte sich in die Richtung, aus der er seinen Namen vernommen hatte und öffnete den Mund. Er wollte etwas antworten, doch aus seinem Mund quoll nur Blut hervor. Er hatte keine Zunge mehr. Und dann sah Branch den Arm. Unterhalb des Ellbogens waren Ramada Haut und Fleisch weggerissen. Die Knochen des Unterarms lagen blank.

Der geblendete Navigator flehte seinen Erlöser an, brachte jedoch nicht mehr als ein klägliches Wimmern zu Stande.

»Echo Tango Eins, nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass .«

Branch schob sich den Helm vom Kopf und ließ ihn an den Kabeln außerhalb des Cockpits herabbaumeln. Mac, Sergeant Jefferson und Christie Chambers würden sich einen Augenblick gedulden müssen. Er musste jetzt Barmherzigkeit walten lassen. Wenn er Ramada nicht zu sich holte, stolperte der Mann womöglich wieder ins unwegsame Gelände hinaus, wo er entweder im Massengrab ertrinken oder vollends von den Raubtieren zerrissen wurde.

Branch nahm all seine Kraft zusammen, richtete sich auf und stieß sich von der Hubschrauberkabine ab. Langsam tappte er seinem Navigator entgegen. »Alles wird gut werden«, sprach er beruhigend auf seinen Freund ein. »Kannst du näher zu mir kommen?«

Ramada war nur noch bedingt ansprechbar. Aber er reagierte auf die Worte und wandte sich in Branchs Richtung. Der schreckliche Knochen hob sich, um Branchs Hand zu schütteln, obwohl ihm selbst die Hand fehlte. Branch wich dem Stummel aus, legte einen Arm um Ramadas Hüfte und zog ihn an sich. Dann kippten sie beide gegen die Überreste des Helikopters.

In gewisser Weise war Ramadas grauenhafter Zustand ein Segen. Im Vergleich dazu fühlte sich Branch wie befreit, denn jetzt musste er sich mit weitaus schlimmeren Wunden als seinen eigenen beschäftigen. Er bettete den Navigator in seinen Schoß und wischte ihm mit der Handfläche Schmutz und Blut aus dem Gesicht. Während er seinen Freund in den Armen hielt, lauschte Branch dem hin und herschaukelnden Helm.

». Echo Tango Eins ...«, leierte das Mantra weiter.

Er saß im Schlamm, den Rücken an sein Schlachtschiff gelehnt und hielt seinen gefallenen Engel umschlungen: eine Pietà im Dreck.

»Major«, zirpte Jeffersons Stimme in die beinahe absolute Stille.

»Sie befinden sich in Gefahr. Haben Sie verstanden?«

»Branch.« Mac klang von dort oben aggressiv, erschöpft und sehr besorgt. »Sie haben es auf Sie abgesehen, Major. Falls Sie mich hören: Gehen Sie in Deckung. Sie müssen sich verstecken.«

Sie kapierten es nicht. Jetzt war doch alles in Ordnung. Er wollte schlafen.

». dreißig Meter noch!«, schrie Mac weiter. »Sehen Sie etwas?«

Wäre er an den Helmfunk herangekommen, hätte Branch ihnen gesagt, sie sollten sich nicht so aufregen. Der Radau, den sie veranstalteten, machte Ramada nur unruhig. Offensichtlich konnte er sie hören. Je mehr sie schrien, desto mehr stöhnte und wimmerte der arme Roberto.

»Schsch, Bobby.« Branch streichelte ihm den blutverschmierten Kopf.

»Noch zwanzig Meter. Direkt vor Ihnen, Major. Sehen Sie etwas? Hören Sie mich?«

Branch gab Macs aufgeregter Stimme nach. Er blinzelte in die salpetrige Fata Morgana, die ihn und Ramada umfing. Es war in etwa so, als starrte man in ein Glas Wasser. Man konnte kaum sechs, sieben Meter weit sehen, dahinter stand eigenartig verzerrt und wie in einem Traum der Wald. Das angestrengte Starren verursachte ihm Kopfschmerzen, und beinahe hätte er es wieder bleiben lassen. Dann sah er etwas.

Die Bewegung geschah am Rande seiner Wahrnehmung und unterstrich die Tiefe des Bildes eher noch, wirkte wie ein bleicher Schatten vor dem dunkleren Wald. Als er den Blick direkt darauf richtete, war sie auch schon verschwunden.

»Sie schwärmen aus, Major. Sie kreisen Sie ein. Wie Raubtiere. Falls Sie mich hören, hauen Sie ab!«

Ramada röchelte. Branch versuchte ihn zu beruhigen, doch der Navigator wurde von einer panischen Angst erfasst. Er schob Branchs Hand weg und heulte ängstlich in Richtung des toten Waldes.

»Sei ruhig«, flüsterte Branch.

»Wir sehen Sie auf dem Infrarot, Major. Gehen davon aus, dass Sie sich nicht bewegen können. Wenn Sie mich hören, halten Sie Ihren Arsch aus der Schusslinie.«

Ramada würde sie mit seinem Lärm ohnehin verraten. Branch sah sich um, und dort, in unmittelbarer Nähe, baumelte seine Sauerstoffmaske von der Kabine herab. Branch packte sie und hielt sie vor Ramadas Gesicht.

Es funktionierte. Ramada hörte auf zu heulen und saugte mit mehreren vollen Atemzügen Sauerstoff ein. Die Krämpfe setzten einen Augenblick später ein.

Später machte niemand Branch für Ramadas Tod verantwortlich. Doch selbst nachdem die Gerichtsmediziner der Armee zu dem Schluss gekommen waren, Ramadas Tod sei durch einen Unfall erfolgt, glaubten nur wenige daran, dass Branch ihn nicht mit Absicht getötet hatte. Einige waren davon überzeugt, er habe dadurch sein Mitleid mit dem verstümmelten Opfer ausgedrückt. Andere meinten, es sei vielmehr ein Beweis für den Selbsterhaltungstrieb eines Soldaten, dass Branch unter diesen Umständen keine andere Wahl geblieben sei.

Ramada krümmte sich in Branchs Umarmung. Die Sauerstoffmaske löste sich. Ramadas Todesqual verschaffte sich in einem lauten Heulen Luft.