Der junge Mann erbleichte.
»Stimmt das?«, fragte er.
»Allerdings«, antwortete de l’Orme.
Das Perinde schien sehr viel zu erklären. Thomas beobachtete, wie Santos de l’Orme einen mitleidigen Blick zuwarf, deutlich erschüttert von dem schrecklichen Kodex, der seinen gebrechlichen Mentor einst gefangen gehalten hatte. »Schön und gut«, wandte sich Santos schließlich an Thomas. »Aber für uns zählt das nicht.«
»Nicht?«, fragte Thomas.
»Wir verlangen die freie Entfaltung unserer Ansichten. Und zwar uneingeschränkt. Euer Gehorsam hat nichts mit uns zu tun.«
Uns, nicht mir. Der junge Mann wurde Thomas allmählich sympathisch.
»Aber jemand hat mich hierhergebeten, damit ich mir ein in Stein gehauenes Bild ansehe«, sagte Thomas. »Ist das nicht auch Gehorsam?«
»Glaub mir, mein Freund, das war ganz gewiss nicht Santos«, lächelte de l’Orme. »Im Gegenteil, er hat stundenlang zu verhindern versucht, dich zu informieren. Er hat mir sogar gedroht, als ich dir das Fax schickte.«
»Warum das denn?«
»Weil das Bild natürlich ist«, erwiderte Santos. »Und Sie werden jetzt versuchen, es zu etwas Übernatürlichem zu machen.«
»Das Angesicht des absolut Bösen?«, fragte Thomas. »So hat es mir de l’Orme beschrieben. Ich weiß nicht, ob es natürlichen Ursprungs ist oder nicht.«
»Es ist nicht das wahre Gesicht. Nur eine Interpretation. Der Albtraum eines Bildhauers.«
»Wenn es aber nun doch ein reales Gesicht darstellt? Ein Gesicht, das uns von anderen Artefakten und anderen Ausgrabungsstätten her bekannt ist? Wie kann es dann etwas anderes als natürlich sein?«
»Da haben wir’s schon!«, beschwerte sich Santos. »Dass Sie mir die Worte im Mund umdrehen, ändert nichts an Ihrer Zielsetzung. Sie wollen dem Teufel in die Augen sehen, auch wenn es nur die Augen eines Menschen sind.«
»Ob Mensch oder Dämon, das obliegt meiner Entscheidung. Es gehört zu meiner Aufgabe, all das zu sammeln, was seit Menschengedenken aufgezeichnet wurde, und es zu einem schlüssigen Bild zusammenzusetzen. Einen Beweis für die Existenz der Seele zu liefern. Habt ihr Fotos davon gemacht?«
Santos war verstummt.
»Zweimal sogar«, beantwortete de l’Orme seine Frage. »Aber der erste Film ist einem Wasserschaden zum Opfer gefallen. Und wie mir Santos berichtete, sind die Aufnahmen des Zweiten so dunkel geworden, dass man nichts darauf erkennen kann. Und die Akkus der Videokamera sind leer. Wir sind hier schon tagelang ohne Strom.«
»Dann vielleicht ein Gipsabdruck? Die Darstellungen sind doch Hochreliefs, oder nicht?«
»Dazu war keine Zeit. Die Erde rutscht nach oder das Loch füllt sich mit Wasser. Wir haben keinen sauber ausgehobenen Graben, und dieser Monsun ist die reinste Plage.«
»Willst du damit sagen, dass es davon überhaupt keine Aufnahmen, keinerlei Aufzeichnungen gibt? Nach drei Wochen? Überhaupt nichts?«
Santos machte einen verlegenen Eindruck. De l’Orme kam ihm zu Hilfe: »Morgen Abend haben wir Material in Hülle und Fülle. Santos hat geschworen, nicht eher aus der Tiefe heraufzusteigen, ehe er nicht das gesamte Bildnis aufgezeichnet hat. Danach kann die Grube selbstverständlich wieder verschlossen werden.«
Angesichts des Unvermeidlichen zuckte Thomas die Achseln. Es war nicht an ihm, de l’Orme und Santos persönlich davon abzuhalten. Die Archäologen wussten es zwar noch nicht, aber sie befanden sich in einem Wettlauf nicht nur mit der Zeit. Morgen würden indonesische Einheiten einrücken, um die Grabungsstätte zu schließen und die mysteriösen Steinsäulen unter Tonnen vulkanischer Erde zu begraben. Thomas war froh, dass er bis dahin längst wieder weg war. Er machte sich nicht besonders viel daraus, einen Blinden gegen Bajonette argumentieren zu sehen.
Es war schon fast ein Uhr morgens. In der Ferne wehte die Gamelan-Musik zwischen den Vulkanen, vermählte sich mit dem Mond, verführte das Meer.
»In diesem Fall würde ich das Fresko gern selbst sehen«, sagte Thomas.
»Jetzt?«, fuhr ihn Santos an.
»Genau das habe ich erwartet«, meinte de l’Orme. »Er ist fünfzehntausend Kilometer gereist, da darf er auch einen kurzen Blick darauf werfen. Gehen wir.«
»Von mir aus«, brummte Santos. »Aber er geht mit mir. Du brauchst deine Ruhe, Bernard.«
Thomas registrierte die Zärtlichkeit. Einen Augenblick war er fast neidisch.
»Dummes Zeug«, sagte de l’Orme. »Ich gehe mit.«
Sie stiegen im Licht der Taschenlampen und unter schimmelig riechenden Regenschirmen mit klebrigen Bambusgriffen den Pfad hinauf. Die Luft war so feucht, dass es schon fast keine Luft mehr war. Es sah aus, als müsste der Himmel jeden Augenblick aufbrechen und sich in einen Wasserfall verwandeln. Diese Monsunschauer in Java konnte man nicht einfach als Regen bezeichnen. Es waren Naturschauspiele, eher Vulkanausbrüchen vergleichbar. Sie bläuten einem so viel Demut ein wie Jehovah persönlich. Man konnte sogar die Uhr nach ihnen stellen.
»Thomas«, sagte de l’Orme, »was wir gefunden haben, datiert weiter zurück, als alles andere, was wir kennen. Es ist unsagbar alt. Zu jener Zeit kletterte die Menschheit noch auf Bäumen herum, erfand gerade mal das Feuer und schmierte mit Fingerfarbe an Höhlenwände. Das ist es, was mir Angst macht. Diese Leute, wer sie auch gewesen sein mögen, dürften eigentlich noch keine Werkzeuge gehabt haben, um Feuerstein zu bearbeiten, geschweige denn, um etwas derartig Kunstvolles aus dem Stein herauszumeißeln. Oder Porträts auf eigens dafür errichteten Säulen zu schaffen. So etwas dürfte überhaupt nicht existieren.«
Thomas dachte nach. Es gab nicht viele Orte auf der Welt, an denen es ältere Beweise für das erste Auftreten der Menschheit gab als auf Java. Der Javamensch -Pithecanthropus, besser bekannt als Homo erectus - war nur wenige Kilometer von ihrem Standpunkt entfernt bei Trinil und Sangiran am Solo-Fluss gefunden worden. Eine Viertelmillion Jahre lang hatten sich die Vorfahren des heutigen Menschen von den Früchten der Bäume ernährt -und sich auch gegenseitig umgebracht und aufgefressen. Auch davon gaben die fossilen Funde unzweifelhaft Zeugnis.
»Du erwähntest einen Fries mit grotesken Figuren.«
»Monströse Gestalten«, bestätigte de l’Orme. »Genau dorthin bringen wir dich jetzt. Zum Sockel von Säule C.«
»Könnte es sich um Selbstporträts handeln? Vielleicht waren es ja Hominiden. Vielleicht waren sie ja mit Talenten gesegnet, die wir ihnen bislang nicht zugetraut hätten.«
»Vielleicht«, antwortete de l’Orme. »Andererseits ist da dieses Gesicht.«
Das Gesicht war es, das Thomas von so weit her an diesen Ort gelockt hatte. »Du sagtest, es sei abscheulich.«
»Nein, das Gesicht selbst ist überhaupt nicht abscheulich. Das ist ja das Problem. Es ist ein vertrautes Gesicht. Das Gesicht eines Menschen.«
»Eines Menschen?«
»Es könnte dein Gesicht sein.«
Thomas warf dem Blinden einen strengen Blick zu.
»Oder meines«, fügte de l’Orme hinzu. »Abscheulich ist nur der Kontext. Dieses ganz normale Gesicht blickt gelassen auf Szenen der Grausamkeit, der Entwürdigung und der Ungeheuerlichkeit.«
»Und?«
»Das ist alles. Es schaut zu. Und man sieht genau, dass es nie mehr wegschauen wird. Dieser Zuschauer wirkt irgendwie zufrieden. Ich bin mit den Fingern über die Szene gefahren«, sagte de l’Orme. »Sogar die Berührung damit ist widerlich. Dieses Nebeneinander von Normalität und Chaos ist höchst ungewöhnlich. Und es ist so banal, so prosaisch. Das ist am verblüffendsten. Es steht völlig außerhalb jeden Zusammenhangs mit seiner Entstehungszeit, welche Zeit das auch immer gewesen sein mag.«