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Richard war nur eine von vielen dieser Kreaturen. Die Säule war so dicht mit Missgestalten und Marterungen bedeckt, dass das ungeübte Auge nur mit Mühe eine von der anderen unterscheiden konnte.

»Hier, Susanne ... sie hat ihre Kinder verloren«, stellte ihm nun de l’Orme eine Frauengestalt vor, der an jeder Hand ein kleines Kind baumelte. »Und diese drei Herren hier habe ich die Musketiere getauft.« Er wies auf ein schauerliches Trio, das sich gegenseitig auffraß. »Einer für alle, alle für einen.«

Es war entschieden abscheulicher als nur eine Aneinanderreihung von Perversionen. Hier war jede Spielart des Leidens dargestellt. Die Kreaturen waren zweibeinig und verfügten über opponierende Daumen, einige von ihnen trugen Tierfelle und sogar auch Hörner. Abgesehen davon hätten es Paviane sein können.

»Du könntest mit deinem ersten Eindruck richtig liegen«, sagte de l’Orme. »Ich hielt diese Geschöpfe zuerst für Mutationen oder Missgeburten. Inzwischen frage ich mich jedoch, ob sie nicht ein Fenster zu einer mittlerweile ausgestorbenen Menschenart sind.«

»Könnte es sich nicht ebenso gut um eine Zurschaustellung psychosexueller Phantasien handeln?«, fragte Thomas. »Vielleicht die Albträume des von dir erwähnten Gesichts?«

»Man wünschte sich beinahe, dem wäre wirklich so«, erwiderte de l’Orme. »Aber das glaube ich nicht. Nur einmal angenommen, unser Meisterbildhauer hier hat irgendwie sein Unterbewusstsein angezapft. Damit ließen sich einige der Gestalten erklären. Aber was du hier siehst, ist keinesfalls die Arbeit der Hand eines Einzelnen. Um diese und die anderen Säulen zu bebildern, hätten mehrere Generationen einer ganzen Künstlerschule im Einsatz sein müssen. Verschiedene Bildhauer hätten unterschiedliche Auffassungen, vielleicht sogar ihr eigenes Unterbewusstsein hinzugefügt. Abgesehen davon: Findest du nicht, dass wir hier eher Szenen des bäuerlichen und des höfischen Lebens, Jagdszenen oder Götterbilder vorfinden müssten? Stattdessen haben wir nur ein einziges großes Bild der Verdammnis vor uns.«

»Aber du glaubst doch nicht, dass es sich dabei um ein Abbild der Realität handelt?«

»Ehrlich gesagt: doch. Es ist alles viel zu realistisch und ohne einen Anflug von Erlösung, um nicht die Wirklichkeit zu sein.«

De l’Orme fand eine Stelle unweit der Mitte des Steins. »Und dann das Gesicht selbst«, sagte er. »Es schläft nicht, und es träumt oder meditiert auch nicht. Es ist hellwach.«

»Richtig, das Gesicht«, ermutigte ihn Thomas.

»Urteile selbst.« Mit einer schwungvollen Gebärde legte nun de l’Orme die flache Hand in die Mitte der Säule, ungefähr auf Kopfhöhe. Doch noch während sich seine Handfläche auf den Stein senkte, verwandelte sich de l’Ormes Gesichtsausdruck. Er sah aus wie jemand, der sich zu weit nach vorne gebeugt und plötzlich die Balance verloren hat.

»Was ist denn?«, erkundigte sich Thomas.

De l’Orme nahm die Hand weg. Unter ihr befand sich nichts.

»Das ist doch nicht möglich!«, rief er.

»Was denn?« fragte Thomas.

»Das Gesicht. Das ist die Stelle, an der es war. Jemand hat das Gesicht zerstört.«

Unter de l’Ormes ausgestrecktem Finger war ein großer aus dem Relief herausgemeißelter Kreis zu sehen, an dessen Rändern noch immer ein paar fein ausgemeißelte Haare und der Ansatz eines Nackens zu sehen waren. »Das war das Gesicht?«, fragte Thomas.

»Jemand hat es mutwillig zerstört!«

Thomas ließ den Blick aufmerksam über die Darstellungen im näheren Umfeld wandern. »Und den Rest unberührt gelassen. Aber warum?«

»Das ist entsetzlich!«, heulte de l’Orme. »Und wir haben keine einzige Aufzeichnung davon. Wie konnte so etwas nur geschehen? Santos war gestern den ganzen Tag hier. Und Pram schob hier Dienst, bis er seinen Posten verlassen hat, der elende Kerl!«

»Könnte es Pram gewesen sein?«

»Pram? Wie kommst du denn darauf?«

»Wer hat sonst noch davon gewusst?«

»Das ist die Frage.«

»Bernard«, sagte Thomas. »Die Sache ist sehr ernst. Es ist fast so, als wollte jemand verhindern, dass ich dieses Gesicht zu sehen bekomme.«

Der Gedanke ließ de l’Orme auffahren. »Oh, das ertrage ich nicht. Warum sollte jemand ein solches Kunstwerk zerstören, nur um .«

»Meine Kirche sieht durch meine Augen«, sagte Thomas. »Jetzt wird sie niemals sehen, was es hier zu sehen gab.«

De l’Orme hielt beunruhigt die Nase an den Stein. »Die Beschädigung ist erst vor wenigen Stunden erfolgt«, teilte er Thomas mit. »Man kann immer noch den frischen Stein riechen.«

Thomas untersuchte die Narbe. »Eigenartig. Keine Meißelspuren. Diese Rillen sehen eigentlich eher wie die Krallenspuren von einem wilden Tier aus.«

»Absurd. Welches Tier würde so etwas tun?«

»Da hat du Recht. Jemand muss ein Messer eingesetzt haben, um das Gesicht wegzureißen. Oder eine Ahle.«

»Das ist ein Verbrechen!« De l’Orme kochte vor Wut.

Von oben fiel Licht auf die beiden alten Männer tief unten in der Grube. »Ihr seid ja immer noch dort unten«, rief Santos.

Thomas hob die Hand, um seine Augen vor dem Lichtstrahl abzuschirmen. Santos hielt die Lampe weiterhin direkt auf sie gerichtet. Thomas kam sich plötzlich sehr angreifbar und gefangen vor. Bedroht. Die Respektlosigkeit des Mannes dort oben machte ihn wütend. De l’Orme bekam von der stummen Provokation nicht das Geringste mit.

»Was treiben Sie da eigentlich?«, wollte Thomas wissen.

»Genau«, pflichtete ihm de l’Orme bei. »Während du dich irgendwo herumtreibst, haben wir eine schreckliche Entdeckung gemacht.«

Santos bewegte seinen Lichtstrahl zur Seite. »Ich habe Geräusche gehört und gedacht, vielleicht ist es Pram.«

»Vergiss Pram. Die Ausgrabung ist sabotiert worden, das Gesicht verstümmelt.«

Santos kam mit kräftig ausholenden Schritten herabgestiegen. Die Leiter bebte unter seinem Gewicht. Thomas zog sich ans Ende der Grube zurück, um ihm Platz zu machen.

»Diebe«, stieß Santos hervor. »Tempeldiebe ... der Schwarzmarkt ...«

»Hör auf«, unterbrach ihn de l’Orme. »Das hier hat nichts mit Diebstahl zu tun.«

»Es war auch nicht Pram«, sagte Thomas.

»Nicht? Woher wollen Sie das wissen?«

Thomas leuchtete mit seiner Lampe in eine Ecke hinter der Säule. »Ich stelle lediglich Vermutungen an. Es könnte ebenso gut jemand anderes gewesen sein. Schwer zu erkennen, wer das ist. Außerdem habe ich den Mann nie kennen gelernt.«

Santos drängte sich hinter die Säule, und richtete seinen Lichtstrahl in den Spalt auf die Überreste. »Pram«, würgte er und übergab sich dann in den Schlamm.

Es sah wie ein Betriebsunfall unter Einwirkung schweren Geräts aus. Der Körper war in eine sechs Zoll breite Spalte zwischen zwei Säulen gerammt worden. Die Kraft, die nötig war, um die Knochen zu brechen, den Schädel zu zerquetschen und den ganzen Körper mit Haut, Fleisch und Kleidern in den engen Zwischenraum zu zwängen, war jenseits aller Vorstellungskraft.

Thomas bekreuzigte sich.

Wie rasch wir doch aufbrausen,

wir Menschen auf Erden.

HOMER, Odyssee

5

Schlechte Nachrichten

FORT RILEY, KANSAS 1999

Auf diesen endlosen, vom Sommer versengten und vom Dezemberwind geknechteten Ebenen hatten sie einst aus Elias Branch einen Krieger gemacht. Hierher war er zurückgekehrt, tot und doch nicht tot, ein lebendes Rätsel. Vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen, verwandelte sich der Mann auf Station G in eine Legende.

Eine Jahreszeit ging in die andere über. Weihnachten nahte. Zwei Zentner schwere Rangers tranken im Offizierskasino auf die überirdische Zähigkeit des Majors. Nach und nach sickerte seine merkwürdige Geschichte nach draußen: Kannibalen mit Brüsten. Selbstverständlich glaubte niemand daran.