Выбрать главу

Eine der Frauen war die Stufen emporgeklettert und kniete jetzt mit leicht geneigtem Kopf neben dem nackten Toten. Dann drehte sie sich zu den anderen um und sagte: »Er ist einer von uns.«

»Was soll das denn heißen?«

»Einer von uns, einer wie du und ich. Ein Weißer.«

Ein anderer drückte es etwas feiner aus: »Einer aus unserer westlichen Zivilisation?«

»Das ist doch Schwachsinn!«, widersprach eine andere Stimme. »Hier? In diesem Niemandsland?«

Ike wusste, dass sie Recht hatte. Die weiße Haut, die Haare auf Unterarmen und Brust, die blauen Augen, die eindeutig nichtasiatischen Wangenknochen. Doch die Frau zeigte nicht auf die haarigen Arme, die blauen Augen oder die schmalen Wangenknochen. Sie zeigte auf die Hieroglyphen auf seinem Oberschenkel. Ike richtete den Strahl seiner Lampe auf den anderen Schenkel und erstarrte.

Der Text war in englischer Sprache geschrieben. Heutigem Englisch. Er stand lediglich auf dem Kopf.

Jetzt dämmerte es ihm. Der Körper war nicht nach dem Tod bemalt worden. Der Mann hatte sich noch vor seinem Tod selbst beschriftet. Er hatte seinen eigenen Körper als Unterlage benutzt. Er hatte seine Reisenotizen auf das einzige Pergament gekritzelt, das garantiert mit ihm reisen würde. Erst jetzt erkannte Ike, dass die Buchstaben nicht nur einfach aufgemalt, sondern grob eintätowiert waren.

Der Mann hatte an sämtlichen Stellen, die er erreichen konnte, sein Vermächtnis hinterlassen. Einzelne Passagen waren von Abschürfungen und Schmutz unkenntlich gemacht worden, insbesondere unterhalb der Knie und rings um die Knöchel. Den Rest hätte man leicht als zufälliges oder irres Gekritzel abtun können. Wörter, Zahlen und Sätze purzelten wild durcheinander, besonders an den äußeren Bereichen der Oberschenkel, die er offensichtlich für weitere Einträge vorgesehen hatte. Die deutlichste Passage zog sich quer über seinen Unterbauch.

»Dass alle Welt sich in die Nacht verliebt«, las Ike laut vor. »Und niemand mehr der eitlen Sonne huldigt.«

»Dummes Zeug«, blaffte Owen, offensichtlich bis ins Mark erschrocken.

»Bibelzeug«, pflichtete ihm Ike bei.

»Ist es nicht!«, meldete sich Kora. »Das stammt nicht aus der Bibel. Das ist aus Shakespeare. Romeo und Julia.«

Ike spürte den Widerwillen in der Gruppe. Warum sollte sich diese gemarterte Kreatur ausgerechnet die berühmteste Liebesgeschichte der Welt als Nachruf ausgesucht haben? Die Geschichte zweier verfeindeter Sippen. Ein Märchen, in dem die Liebe über die Gewalt obsiegt. Dieser arme Wicht war wohl vor Sauerstoffmangel und Einsamkeit durchgedreht. Es war kein Zufall, dass ausgerechnet in den am höchsten gelegenen Klöstern der Welt von den herrlichsten Erscheinungen berichtet wurde. Hier oben waren Halluzinationen an der Tagesordnung. Sogar der Dalai Lama machte seine Scherze darüber.

»Na schön«, sagte Ike. »Er ist also europäischer Abstammung. Er kannte Shakespeare. Also kann er nicht älter als zwei- oder dreihundert Jahre sein.«

Es wurde das reinste Gesellschaftsspiel. Ihre Angst schlug in morbides Entzücken um. Gerichtsmedizinische Vermutungen als Volkssport.

»Wer dieser Kerl nur sein mag?«, fragte sich eine Frau.

»Ein Sklave vielleicht?«

»Ein entlaufener Gefangener?«

Ike sagte nichts. Er stellte sich von Angesicht zu Angesicht vor das hagere Antlitz und suchte darin nach Hinweisen. Erzähl mir von deiner Reise, dachte er. Verrate mir, wie du geflohen bist. Wer hat dich in Gold geschlagen? Keine Antwort. Die Marmoraugen scherten sich nicht um seine Neugier.

Owen war zu ihnen auf den Vorsprung gestiegen und las von der anderen Schulter: »Raf.«

Tatsächlich wies der linke Deltamuskel eine Tätowierung mit dem Schriftzug RAF unter einem Adler auf. Sie war richtig herum geschrieben und zeugte von professioneller Qualität. Ike fasste den kalten Arm an.

»Royal Air Force«, übersetzte er.

Die Teile des Puzzles setzten sich allmählich zusammen. Sogar der Shakespeare war damit halbwegs erklärt, wenn auch nicht die Auswahl der Verse.

»War das ein Pilot?«, fragte ein Bubikopf aus Paris. Sie schien davon angetan zu sein.

»Pilot, Navigator, Bomberschütze.« Ike zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.«

Wie ein Kryptograph, der versucht, einen geheimen Code zu knacken, beugte sich Ike über die Wörter und Zahlen, mit denen die Haut übersät war. Jeden Zusammenhang zwischen den Zeichen, jede mögliche Spur verfolgte er Zeile für Zeile. Hier und da verpasste er vollständig ausgeführten Gedanken mit seiner Fingerspitze einen Schlusspunkt. Die Bergwanderer wichen ein Stück zurück, damit er sämtliche Zeichen ungestört begutachten konnte. Er schien zu wissen, was er tat.

Ike fing wieder von vorne an und versuchte, die Zeichen von hinten aufzurollen, doch auch das ergab keinen Sinn. Er zog seine topographische Himalaya-Karte hervor, suchte eine geographische Länge und Breite, schnaubte jedoch spöttisch, als er ihren Kreuzungspunkt erkannte.

Das kann nicht sein, dachte er und ließ den Blick über den malträtierten Menschenkörper wandern. Dann blickte er wieder auf die Karte. Oder doch?

»Auch einen Schluck?« Der Geruch frisch gepressten französischen Gourmetkaffees ließ ihn erstaunt aufsehen. Eine Plastiktasse schob sich in sein Gesichtsfeld. Ike schaute in Koras blaue Augen, in denen sich Versöhnung spiegelte. Das wärmte ihn mehr auf als der Kaffee. Er murmelte einen Dank, nahm die Tasse und stellte plötzlich fest, dass er wahnsinnige Kopfschmerzen hatte. Stunden waren vergangen. In den tieferen Regionen der Höhle machten sich Schatten wie nasser Schlamm breit.

Ike sah eine kleine Gruppe, die wie die Neandertaler um einen kleinen Gaskocher hockte, Schnee schmolz und Kaffee braute. Der deutlichste Beweis für dieses Wunder war die Tatsache, dass Owen jetzt tatsächlich seinen Privatvorrat an Kaffee mit ihnen teilte. Eine der Frauen mahlte die Bohnen in einer Plastikmühle, eine andere drückte den Pressfilter herunter, und die dritte streute etwas Zimt auf den Inhalt jeder Tasse. Sie arbeiteten tatsächlich im Team. Zum ersten Mal seit einem Monat konnte sich Ike beinahe vorstellen, sie zu mögen.

»Alles in Ordnung mit dir?«, erkundigte sich Kora.

»Mit mir?« Es kam ihm merkwürdig vor, dass sich jemand nach seinem Wohlbefinden erkundigte.

Als müsste er sich nicht ohnehin über genügend andere Dinge den Kopf zerbrechen, kam Ike plötzlich der Verdacht, Kora wolle ihn verlassen. Vor ihrer Abreise aus Katmandu hatte sie verkündet, dieses sei ihr letzter Trip für die Firma. Und da die Firma »Himalaya Hochgebirgstouren« nur aus ihr und ihm bestand, würde diese Ankündigung weitere Unannehmlichkeiten nach sich ziehen. Es hätte ihm weniger ausgemacht, wenn sie ihn wegen eines anderen Mannes, eines anderen Landes, eines besseren Einkommens oder höherer Risiken wegen verlassen hätte. Doch ihr Grund war einzig und allein er gewesen. Ike hatte ihr Herz gebrochen, weil er Ike war, voller Träume und jugendlicher Naivität. Einer, der sich auf dem Strom des Lebens nach Herzenslust treiben lässt. Ausgerechnet das, was sie früher am meisten fasziniert hatte, verärgerte sie jetzt:    seine Einsam er-Wolf-Hochgebirgsmarotte. Ihrer Meinung nach hatte er keinen Schimmer, wie die Menschen wirklich funktionierten, und vielleicht hatte sie damit nicht ganz Unrecht. Er hatte gehofft, die Tour würde die Kluft zwischen ihnen irgendwie überbrücken, Kora wieder mit dem Zauber infizieren, der auch ihn immer wieder in seinen Bann schlug. Aber in den letzten beiden Jahren war sie dessen überdrüssig geworden. Unwetter und finanzielle Pleiten hatten für sie nichts Magisches mehr an sich.

»Ich habe mir dieses Mandala genauer angeschaut«, sagte sie und zeigte auf den gemalten Kreis mit den gekreuzten Linien. Im Dunkeln hatten die Farben geleuchtet, waren fast lebendig gewesen. Bei Licht wirkte die Zeichnung stumpf. »Ich habe schon Hunderte von Mandalas gesehen, aber aus dem hier werde ich nicht schlau. Diese Striche und Schnörkel sehen wie das reinste Chaos aus. Außerdem scheint es keinen Mittelpunkt zu haben.« Sie sah zu der Mumie auf, dann fiel ihr Blick auf Ikes Notizen. »Was denkst du? Hast du eine Idee?«