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Seine Köderanalogie entfaltete sich. Diese Methode war weniger wie Restefischen, sondern eher wie eine Bärenhatz. Ikes Vater hatte solche Jagden im Gebiet rings um den Wind River für reiche Texaner organisiert, die dafür gezahlt hatten, in einem Versteck zu hocken und von dort aus Braun- und Schwarzbären zu schießen. Alle Ausstatter in dieser Branche taten das, es war ein ganz normaler Job, so wie Viehzüchten. Man legte ungefähr zehn Reitminuten von den Hütten entfernt einen Müllhaufen an, damit sich die Bären an geregelte Futterzeiten gewöhnten, und wenn die Jagdsaison heraufzog, fing man an, kleine ausgesuchte Leckerbissen auszulegen. Um ihnen das Gefühl zu geben, ihr Scherflein beizutragen, wurden Ike und seine Schwester nach Ostern immer dazu aufgefordert, ihre Marshmallow-Häschen rauszurücken. Kurz vor seinem zehnten Geburtstag war es so weit, dass Ike seinen Vater begleiten durfte, und erst an diesem Tag sah er, wohin seine Süßigkeiten verschwanden.

Die Bilder überschlugen sich. Die rosafarbenen Leckereien eines Kindes einsam im schweigenden Wald zurückgelassen. Tote, im Herbstlicht aufgehängte Bären, Häute, die wie von Zauberhand gelöst schwer herabfielen, nachdem die Messer hier und dort präzise Schnitte angebracht hatten. Und darunter Körper fast wie Menschen, nass und glitschig wie Schwimmer.

Raus, dachte Ike. Nichts wie raus hier. Ohne es zu wagen, den Lichtstrahl vom Berginneren abzuwenden, schob sich Ike durch den Spalt zurück, verfluchte seine laut raschelnde Jacke, verfluchte die Steine, die unter seinen Sohlen wegrutschten, verfluchte seine Habgier. Er hörte Geräusche, von denen er wusste, dass sie nicht existierten. Schreckte vor Schatten zurück, die er selbst warf. Das Grauen wollte nicht mehr von ihm weichen. Er konnte an nichts anderes mehr denken als an Flucht.

Atemlos erreichte er die Hauptkammer der Höhle. Noch immer standen ihm sämtliche Körperhaare zu Berge. Sein Rückweg konnte nicht länger als fünfzehn Minuten in Anspruch genommen haben. Ohne auf die Uhr zu sehen, schätzte er seinen gesamten Hm- und Rückweg auf weniger als eine Stunde.

In der Höhle war es stockfinster. Er war allein. Er lauschte angestrengt, während sich sein Herzschlag allmählich beruhigte, doch bis auf das dumpfe Pochen in seiner Brust war kein Geräusch, weder Scharren noch Schlurfen zu vernehmen. An der gegenüberliegenden Wand des Gewölbes sah er die sanft fluoreszierende Schrift, die sich wie eine zahme exotische Schlange um den dunklen Leichnam wand. Ike schaltete die Lampe an und richtete den Strahl quer durch den Felsendom auf den Leichnam. Der goldene Nasenring blinkte. Und noch etwas anderes. So wie man manchmal noch einmal zu einem Gedanken zurückkehrt, fuhr er ein zweites Mal mit dem Lichtstrahl über das Gesicht.

Der Tote lächelte.

Ike schwenkte die Lampe hin und her. Es musste eine optische Täuschung sein - oder er litt an Gedächtnisschwund. An eine starre Grimasse konnte er sich erinnern, aber nicht an dieses irre Lächeln. Dort, wo er zuvor lediglich die Spitzen einiger weniger Zähne gesehen hatte, spielte jetzt Freude, ja, ausgelassene Fröhlichkeit in seinem Lichtstrahl. Reiß dich zusammen, Crockett.

Sein Verstand wollte sich nicht beruhigen. Was, wenn die Leiche selbst ein Köder war? Plötzlich nahm der Text eine groteske Eindeutigkeit an. Ich bin Isaak. Der Sohn, der sich selbst als Opfer hingab. Um die Liebe des Vaters zu erlangen. Im Exil. In meiner Agonie des Lichts. Aber was hatte das alles zu bedeuten?

Ike hatte genug bitterernste Rettungsaktionen mitgemacht und wusste, was zu tun war. Wobei hier nicht allzu viele Möglichkeiten zur Auswahl standen. Ike schnappte sich seine 9-mm-Seilrolle, stopfte sich die letzten vier Batterien in die Tasche und blickte sich um. Was noch? Zwei Proteinriegel, eine Velcro-Fußklammer, der Erste-Hilfe-Kasten. Im Ernstfall wenig genug, aber ihre Ausrüstung gab kaum noch etwas her.

Kurz vor dem Verlassen der Haupthöhle ließ Ike den Lichtstrahl noch einmal durch den Raum wandern. Auf dem Boden lagen die Schlafsäcke wie verlassene Kokons verstreut. Er betrat den rechten Tunnel. Der Gang wand sich mit gleichmäßigem Gefalle nach unten, erst nach links, dann nach rechts, dann wurde er etwas steiler. Was für ein Fehler, sie wegzuschicken, auch wenn sie alle zusammen waren. Ike konnte nicht glauben, dass er seine kleine Herde tatsächlich einem derartigen Risiko ausgesetzt hatte. Ebenso unfassbar war es, dass sie es eingegangen waren. Aber schließlich wussten sie es nicht besser.

»Hallo!«, rief er. Bei jedem Meter, den er weiter nach unten schritt, wurde sein schlechtes Gewissen größer. War es sein Fehler, dass sie ihr Vertrauen in einen Glücksritter und Aussteiger gesetzt hatten?

Es ging langsamer voran. Wände und Decken waren von sich in Schichten abblätterndem Gestein aufgeraut. Ein falscher Griff, schon konnte die ganze Masse ins Rutschen kommen. Ike schwankte zwischen Bewunderung und Verachtung. Seine Pilger waren sehr mutig. Seine Pilger waren sehr leichtsinnig. Und jetzt war auch er in Gefahr.

Ohne Kora hätte er sich wohl rasch davon überzeugt, dass es Schwachsinn sei, noch weiter hinabzusteigen. In gewisser Hinsicht war sie der Sündenbock seines Mutes geworden. Er wollte umdrehen und fliehen. Die gleiche Vorahnung, die ihn im anderen Tunnel gelähmt hatte, befiel ihn auch hier. Seine Muskeln wollten ihm den Dienst verweigern, Glied für Glied und Gelenk für Gelenk rebellierte. Er zwang sich, weiter hinabzusteigen.

Schließlich kam er an einem steil abfallenden Schacht an und blieb stehen. Wie ein unsichtbarer Wasserfall strömte eine Säule frostiger Luft an ihm vorbei, eine Luft aus Regionen, die sein Lichtstrahl nicht mehr erreichte. Er streckte die Hand aus, und der kalte Strom floss durch seine Finger.

Unmittelbar am Rande des Abgrunds blickte Ike sich suchend um und fand zu seinen Füßen eine seiner chemischen Kerzen. Das grüne Leuchten war so schwach, dass er es beinahe übersehen hätte. Er hob die Plastikröhre an einem Ende hoch, schaltete seine Lampe aus und versuchte zu schätzen, wie lange es her sein mochte, dass sie die Mixtur aktiviert hatten. Vor mehr als drei Stunden, weniger als sechs. Die Zeit floss dahin, entzog sich seiner Kontrolle. Nur für alle Fälle roch er am Plastik. Es war zwar unmöglich, doch es schien ihm ein Hauch von Kokosnuss anzuhaften.

»Kora!«, brüllte er in den Luftschacht hinein.

Von dort, wo Felsvorsprünge dem Windstrom im Weg standen, antwortete ihm eine kleine Sinfonie aus Pfiffen, Sirenengesang und Vogelschreien, eine Musik aus Stein. Ike schob die Kerze in eine seiner Taschen.

Die Luft roch frisch, beinahe wie draußen in der Welt, Ike atmete mehrere Male tief durch. Unterschiedliche Gefühlseindrücke ballten sich zu einer Empfindung zusammen, die man nur als Kummer bezeichnen konnte. In diesem Augenblick sehnte er sich nach etwas, das er noch nie wirklich vermisst hatte. Er sehnte sich nach der Sonne.

Ike suchte die Ränder des Schachts mit seinem Lichtstrahl ab, suchte nach Anzeichen dafür, dass seine Gruppe diesen Weg eingeschlagen hatte. Zwar entdeckte er hier und dort einen möglichen Halt, einen winzigen Vorsprung, auf dem man sich hätte ausruhen können, aber eigentlich war niemand - nicht einmal Ike in seinen besten Zeiten - im Stande, dort mit heiler Haut hinunterzuklettern. Der Schwierigkeitsgrad des Schachtes überstieg sogar das Talent seiner Gruppe für blindes Vertrauen. Sie mussten umgekehrt sein und einen anderen Weg gewählt haben. Ike raffte sich auf.

Hundert Meter zurück fand er die Stelle, an der sie abgebogen waren. Auf seinem Weg nach unten war er dicht an der Öffnung vorbeigekommen. Jetzt, auf dem Rückweg, sprang einem das Loch direkt ins Auge ... insbesondere sein grünes Leuchten, das aus seinem abgewinkelten Schlund wehte. Um sich durch die schmale Öffnung zwängen zu können, musste er sein Gepäck abnehmen. Direkt dahinter lag die zweite Chemiekerze.