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Anhand des Kerzenvergleichs - diese hier glomm noch viel heller - ließ sich die Route der Gruppe chronologisch festmachen. Seine Leute waren tatsächlich hier vom Hauptgang abgewichen. Er versuchte sich vorzustellen, welcher Pioniergeist die Gruppe dazu veranlasst haben mochte, in diesen Seitentunnel einzusteigen, und er wusste, dass dafür nur eine Person in Frage kam.

»Kora«, flüsterte er. Sie würde Owen ebenso wenig aufgeben wie er. Sie allein würde darauf bestehen, tiefer und tiefer in das Tunnelsystem vorzudringen.

Die Abzweigung führte zu weiteren Verästelungen. Ike folgte dem Seitentunnel bis zur ersten Gabelung, dann zur zweiten und dritten. Das Geflecht, das sich vor ihm auftat, erschreckte ihn. Unwissentlich hatte Kora sie alle in die Tiefen eines unterirdischen Labyrinths geführt. Zunächst hatte die Gruppe sich noch die Zeit genommen, ihren Weg zu markieren. Ein paar Gabelungen wurden mit einfachen, aus Steinen geformten Pfeilen angezeigt. Einige andere wiesen mit einem großen, an die Felswand gekratzten X den richtigen Weg. Doch bald schon suchte er diese Zeichen vergebens. Wahrscheinlich von ihrem raschen Voranschreiten ermutigt, hatte die Gruppe einfach aufgehört, ihren Pfad zu markieren. Bis auf einige abgeschabte Stellen an der Wand oder eine frische Bruchstelle, wo jemand sich festgehalten und ein Stück Stein herausgerissen hatte, fand Ike nur noch wenige Anhaltspunkte.

Seine Überlegungen, welchen Weg sie wohl genommen haben mochten, verschlangen viel Zeit. Ike sah auf die Uhr. Inzwischen war es schon weit nach Mitternacht. Das bedeutete, dass er Kora und die anderen schon seit über neun Stunden verfolgte. Und das wiederum hieß, dass sie sich hoffnungslos verlaufen hatten.

Sein Kopf schmerzte. Er war müde. Das Adrenalin war längst aufgebraucht. Die Luft roch schon lange nicht mehr nach Berggipfeln. Hier roch es nach dem Erdinneren, nach den Lungen des Berges. Das war der Geruch der Dunkelheit.

Er kam zu einem ehemaligen Vulkanschlot, einem gewaltigen Hohlraum mitten im Berg. Sogar in seinem erschöpften Zustand wurde er von Ehrfurcht ergriffen. Gigantische Säulen aus Kalkstein hingen von der gewölbten Decke herab. An eine Wand war ein übergroßes OM-Symbol gemalt. Und Dutzende, vielleicht sogar Hunderte uralter mongolischer Rüstungen hingen an Lederriemen, die an Buckeln und Vorsprüngen im Stein festgeknotet waren. Der Anblick ließ an eine komplette Geisterarmee denken. Eine besiegte Armee.

Der helle Kalkstein sah im Licht seiner Taschenlampe wunderschön aus. Die Rüstungen schaukelten im leichten Luftzug und warfen den Strahl millionenfach gebrochen zurück. Ike bewunderte die an den Wänden aufgespannten Thangka-Gemälde auf weichem Leder. Erst als er eine ausgefranste Ecke anfasste, erkannte er, dass die Fransen eigentlich Menschenfinger waren. Entsetzt ließ er sie los. Bei dem Leder handelte es sich um Menschenhaut. Er wich zurück und zählte die Thangkas. Es waren mindestens fünfzig. Hatten sie einst dieser mongolischen Horde gehört?

Er sah nach unten. Seine Stiefel waren zur Hälfte über ein weiteres Mandala gelaufen. Dieses hier maß gut sieben Meter im Durchmesser und war aus farbigem Sand gefertigt. Er hatte solche Mandalas schon in tibetischen Klöstern gesehen, aber niemals so groß. Wie dasjenige in der Höhle neben Isaak enthielt es Details, die weniger geometrisch als organisch wirkten: Wie Würmer, dachte er. Seine Spuren waren nicht die einzigen, die das Kunstwerk ruiniert hatten. Andere waren darüber hinweggetrampelt, vor noch nicht allzu langer Zeit. Kora war mit ihrer Truppe hier entlanggekommen.

An der nächsten Weggabelung waren keinerlei Hinweise mehr zu entdecken. Ike stand vor dem sich immer weiter verzweigenden Tunnelsystem, und eine Erinnerung aus seiner Kindheit übermittelte ihm die Antwort auf alle Labyrinthe: Gehe entweder nach links oder nach rechts, aber bleibe dann dabei. Da sie sich in Tibet befanden, dem Land, in dem man im Uhrzeigersinn um heilige Tempel und Berge ging, entschied er sich für links.

Ike ging durch eine Kalksteinhöhle, deren weiße, glatte Oberfläche die Dunkelheit förmlich zu verschlucken schien. Die Wände bogen sich ohne Winkel. Der Fels wies weder Risse noch Vorsprünge auf, nur Runzeln und sanfte Wölbungen. Nirgendwo verfing sich der Lichtstrahl, nichts warf einen Schatten. Das Ergebnis war reines, unverfälschtes Licht. Ganz gleich, wohin Ike seine Lampe richtete, er war immer von einem milchigen Strahlen umgeben.

Dann sah er Cleo. Ike kam um eine Biegung und ihr Licht vereinigte sich mit seinem. Sie saß in der Lotusposition mitten auf dem leuchtenden Weg. Mit den zehn vor ihr liegenden Goldmünzen erinnerte sie fast an einen Bettler.

»Bist du verletzt?«, fragte Ike.

»Nur mein Knöchel.« Cleo lächelte. Ihre Augen strahlten diesen heiligen Glanz aus, nach dem sie alle trachteten, teils Weisheit, teils Seelenheil. Ike ließ sich nicht beirren.

»Los, komm!«, befahl er.

»Geh du vor«, hauchte Cleo mit Engelsstimme. »Ich bleibe noch ein Weilchen.«

Manche Leute kommen mit der Einsamkeit klar. Manche glauben nur, sie könnten es. Ike hatte die Opfer der Einsamkeit in den Bergen und in Klöstern gesehen, und einmal sogar im Gefängnis. Manchmal brachte sie die Isolation zur Strecke. Manchmal waren es Kälte oder Hunger oder auch nur unprofessionelle Meditation. Bei Cleo war es von allem ein bisschen. Er warf einen Blick auf die Uhr. Drei Uhr morgens. »Was ist mit den anderen? Wo sind sie hin?«

»Nur ein Stückchen weiter«, sagte sie. Das war eine gute Nachricht. Dann kam die schlechte Nachricht. »Sie wollten dich suchen.«

»Mich suchen?«

»Du hast immer wieder um Hilfe gerufen. Wir wollten dich nicht allein lassen.«

»Ich habe überhaupt nicht um Hilfe gerufen.«

Sie tätschelte ihm nachsichtig das Bein.

»Einer für alle, alle für einen«, versicherte sie ihm.

Ike hob eine der Münzen auf. »Wo hast du die gefunden?«

»Überall«, antwortete sie. »Es wurden immer mehr, je tiefer wir hineingingen. Ist das nicht wunderbar?«

»Ich suche die anderen. Dann kommen wir alle zurück und nehmen dich mit«, sagte Ike und wechselte dabei die ersterbenden Batterien in seiner Stirnlampe aus. »Versprich mir, dich nicht von hier wegzurühren.«

»Mir gefällt es sehr gut hier.«

Er ließ Cleo in einem Meer alabasterfarbenen Glanzes zurück.

Die Kalksteinröhre trieb ihn tiefer in den Berg. Sie senkte sich gleichmäßig, und er fand überall bequemen Halt für seine Sohlen. Überzeugt davon, dass er die anderen bald einholen würde, verfiel er in einen leichten Trab. Die Luft nahm einen kupferhaltigen Beigeschmack an, unbestimmt und doch irgendwie vertraut. Nur ein Stückchen weiter, hatte Cleo gesagt.

Die ersten Blutspuren sah er um drei Uhr siebenundvierzig.

Da sie zuerst als hellrote Handabdrücke auf dem weißen Stein auftauchten, und weil der Stein so porös war, dass er die Flüssigkeit praktisch aufsaugte, hielt Ike sie zunächst für primitive Kunst und verlangsamte seinen Gang. Der malerische Effekt wirkte in seiner verspielten Zufälligkeit direkt ansprechend. Ike gefiel die Vorstellung, dass sich hier unbekümmerte Höhlenmenschen verewigt hatten.

Dann trat er in eine Pfütze, die der Stein noch nicht völlig absorbiert hatte. Die dunkle Flüssigkeit spritzte auf und klatschte in leuchtenden Streifen an die Wand, rot auf weiß. Blut, erkannte er.

»O Gott!«, entfuhr es ihm, und er sprang reflexartig zur Seite. Ein weiterer Schritt auf Zehenspitzen, dann berührte die gleiche blutige Sohle den Boden und rutschte seitlich weg. Im Fall schlug er mit dem Gesicht an die Felswand. Die Lampe flog ihm aus der Hand, das Licht verlosch. Tastend hielt er sich am kalten Kalkstein fest und blieb stehen. Es war, als hätte man ihn beinahe bewusstlos geschlagen. Die undurchdringliche Dunkelheit brachte alles zum Stillstand. Sogar sein Atem stoppte. So sehr er sich nach einer gnädigen Ohnmacht sehnte, er blieb doch hellwach.