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Ich hatte mich gerade abgewandt, um die Rückseite des Hotels zu betrachten, und dachte an nichts Besonderes, als ich hinter mir plötzlich Schritte hörte und eine Stimme sagte:»Haben Sie da gestanden, als es passiert ist?« Es war das erste Mal, dass ich Silberstocks Stimme aus der Nähe hörte. Es war eine angenehme Stimme, tief, aber deutlich, wie das Meer in einer Höhle. In seinem groben Tweedjackett und der Mütze mit den Ohrenklappen stand er da, nur ein paar Meter von mir entfernt. Brummbär stand hinter ihm, den Hals in einen Wollschal eingemummt, und schaute beunruhigt drein. Ich überlegte, schaute erneut zum Dach hinauf und dann auf meine Füße.

«Ja, hier ungefähr muss es gewesen sein.« «Holmes, meinen Sie nicht, wir sollten die Mutter des Mädchens fragen? Sie könnte eventuell …« «Meine Mutter war nicht dabei. Ich schon.« Vielleicht hatte ich bereits etwas darüber gelernt, wie man sich in Szene setzt. Mir ging durch den Kopf, wie herrlich es doch wäre, wenn er sich vor mir verbeugen würde, wie er sich vor ihr verbeugt hatte.

«Ganz genau.« Er verbeugte sich zwar nicht, schien jedoch sehr erfreut.

«Sehen Sie, Watson, Miss Jessica ist überhaupt nicht aufgeregt deswegen, stimmt’s?« Ich merkte, dass er es als Kompliment meinte, neigte also den Kopf leicht in seine Richtung, so wie ich es vor dem Spiegel geübt hatte, wenn Amanda mal nicht hersah.

Er lächelte, und in seinem Lächeln lag mehr Wärme, als man bei seiner Größe und Kantigkeit erwartet hätte.

«Ich nehme an, Sie haben nichts dagegen, über das zu reden, was Sie gesehen haben.« «Nicht im Geringsten«, sagte ich huldvoll. Mit meiner Ehrlichkeit verdarb ich es dann aber wieder, indem ich hinzufügte:»Ich habe aber nicht sehr viel gesehen.« «Es geht nicht darum, wie viel Sie gesehen haben, sondern wie deutlich. Vielleicht könnten Sie Dr. Watson und mir einmal genau erzählen, was Sie gesehen haben, und zwar in so vielen Einzelheiten, wie Sie sich erinnern können.« Die Stimme war sanft, doch in den dunklen Augen, die unverwandt auf mich gerichtet waren, lag keine Sanftheit.

Ich will damit nicht sagen, dass sie hart oder grausam waren, bloß dass Emotionen in ihnen keine größere Rolle spielten als etwa in der Linse einer Kamera oder eines Fernrohrs. Sie vermittelten mir ein seltsames Gefühl, nicht direkt von Angst, eher als wäre ich auf eine Weise real geworden, wie ich es vorher noch nicht recht gewesen war. Mir war bewusst, dass ich nun eine ganz klare Aussage machen musste über das, was ich vor einem Jahr gesehen hatte, dass dies wichtiger war als alles, was ich je getan hatte. Ich machte die Augen zu und dachte scharf nach.

«Ich stand genau hier und habe auf Mutter und Amanda gewartet, denn wir wollten spazieren gehen, und Amanda hatte wie üblich einen ihrer Pelzhandschuhe verloren. Ich sah den Mann fallen, dann schlug er auf dem Dach über dem Speisesaal auf und kam heruntergerutscht. Der Schnee hat sich mitbewegt, und er kam mit dem Schnee herunter. Direkt da drüben, wo der Stuhl steht, ist er gelandet, und dann kam der restliche Schnee auch noch auf ihn herunter, so dass bloß noch sein Arm herausragte.

Der Arm bewegte sich nicht, aber ich wusste nicht, dass er tot war. Dann kamen viele Leute angerannt und fingen an, den Schnee von ihm wegzuschieben, und jemand sagte, ich sollte gar nicht da sein, also brachten sie mich weg und suchten nach meiner Mutter, und deshalb war ich nicht dabei, als sie den Schnee von ihm wegwischten.« Atemlos hielt ich inne. Brummbär sah etwas beunruhigt und mitleidig aus, Silberstocks Blick hatte sich dagegen nicht verändert.

«Als Sie auf Ihre Mutter und Schwester gewartet haben, in welche Richtung haben Sie da geschaut?« «Auf den Eisplatz. Ich habe den Schlittschuhläufern zugesehen.« «Ganz genau. Das heißt also, Sie standen vom Hotel abgewandt.« «Ja.« «Und doch haben Sie den Mann fallen sehen?« «Ja.« «Wieso haben Sie sich umgedreht?« Darüber hatte ich keinen Zweifel. Es war derjenige Teil meiner Geschichte, für den sich damals alle am meisten interessiert hatten.

«Er schrie.« «Was schrie er denn?« «Er schrie ›Nein‹.« «Wann schrie er das?« Ich zögerte. Das hatte mich bisher noch niemand gefragt, weil die Antwort offensichtlich war.

«Beim Fallen.« «Klar, aber wann genau? Ich nehme an, bevor er auf dem Dach über dem Speisesaal landete, denn sonst hätten Sie sich ja nicht rechtzeitig umgedreht und es gesehen.« «Ja.« «Und Sie haben sich so rechtzeitig umgedreht, dass Sie ihn erst in der Luft und dann fallen gesehen haben?« «Holmes, ich finde, Sie sollten sie nicht …« «Ach, seien Sie still, Watson. Also, Miss Jessica?« «Ja, er war in der Luft und fiel herunter.« «Und da hatte er schon geschrieen. Zu welchem Zeitpunkt schrie er denn genau?« Ich wollte mich clever und erwachsen geben, damit er viel von mir hielt.

«Ich glaube, das war, als sie ihn aus dem Fenster geschubst hat.« Auf Brummbärs Gesicht zeichneten sich nun die meisten Gefühle ab. Er verdrehte die Augen, lief rot an und machte mit den Händen in den Pelzfäustlingen kleine flehende Gesten, wodurch er noch bärenhafter wirkte als sonst.

Diesmal galt der Protest aber nicht seinem Freund, sondern mir. Silberstock hob die Hand, um ihn davon abzuhalten, dass er etwas sagte, aber sein Gesicht hatte sich ebenfalls verändert und auf seiner Stirn kerbte sich eine tiefe V-förmige Falte ein. Die Stimme klang nun eine Spur weniger sanft.

«Als ihn wer aus dem Fenster geschubst hat?« «Seine Frau, Mrs. McEvoy.« Ich überlegte, ob ich hinzufügen sollte:»Die Frau, vor der Sie sich gestern Abend verbeugt haben«, entschied mich aber dagegen.

«Haben Sie gesehen, wie sie ihn geschubst hat?« «Nein.« «Haben Sie Mrs. McEvoy am Fenster gesehen?« «Nein.« «Und trotzdem sagen Sie, Mrs. McEvoy hätte ihren Mann aus dem Fenster gestoßen. Warum?« «Weiß doch jeder, dass sie es getan hat.« An Brummbärs Gesichtsausdruck merkte ich, dass ich mich ganz schön verrannt hatte, wusste aber nicht, wo. Er, ein freundlicher Kerl, hatte es wohl erraten, denn er fing an, es mir zu erklären.

«Wissen Sie, mein Kind, nach all den Jahren mit meinem guten Freund Mr. Holmes …« Wieder wurde er mit einem Wink zum Schweigen gebracht.

«Miss Jessica, Dr. Watson meint es gut, aber ich hoffe doch, er lässt mich für mich selbst sprechen. Es ist ein weit verbreiteter Irrtum zu glauben, das Alter an sich brächte schon Weisheit mit sich, doch was es ganz sicher mit sich bringt, ist Erfahrung. Gestatten Sie mir, Ihnen aus meiner Erfahrung, wenn auch nicht aus meiner Weisheit, einen kleinen Rat zu geben!« Ich nickte, diesmal nicht huldvoll, sondern bloß verblüfft.

«Mein Rat ist folgender: Denken Sie immer daran, was alle wissen, weiß keiner.« Er benutzte seine Stimme so, wie ein Schlittschuhläufer sein Gewicht auf den Schlittschuhkufen zum Gleiten oder Drehen einsetzt.

«Sie sagen, jeder weiß doch, dass Mrs. McEvoy ihren Mann aus dem Fenster gestoßen hat. Soweit ich weiß, sind Sie die Einzige auf der Welt, die Mr. McEvoy fallen sah.

Und doch haben Sie eben gesagt, Sie hätten nicht gesehen, wie Mrs. McEvoy ihn hinausstieß. Wer also ist dieser

›jeder‹, der mit solcher Gewissheit etwas von einem Vorfall behaupten kann, den unseres Wissens niemand mit eigenen Augen gesehen hat?« Es ist schrecklich, wenn man keine Antwort weiß. Was ist neunzehn mal drei? Wie lautet die Partizipform des Verbs faire? Ich hatte mich ihm als ebenbürtig erweisen wollen, doch er hatte unwissentlich den Knopf gedrückt, der mich wie im Klassenzimmer in Panik versetzte.»Er war sehr reich«, brach es aus mir hervor,»und sie hat ihn nicht geliebt, und jetzt ist sie sehr reich und kann machen, was sie will.« Wieder schossen die Pelzfäustlinge des Bären hoch und scharrten durch die Luft. Wieder wurde er nicht beachtet.