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«Mrs. McEvoy ist also reich und kann machen, was sie will? Kommt es Ihnen so vor, als wäre sie glücklich?« «Holmes, wie kann ein Kind denn wissen …?« Ich dachte an die Zigeunermusik, den glänzenden dunklen Pelz, die Perlen in ihrem Haar und schüttelte unwillkürlich den Kopf.

«Nein. Und trotzdem kommt sie wieder hierher, genau ein Jahr nachdem ihr Mann gestorben ist, ausgerechnet an den einen Ort auf der Welt, von dem man meinen würde, sie würde ihn um jeden Preis meiden wollen. Sie kommt hierher, obwohl sie weiß, was die Leute über sie sagen, sorgt dafür, dass auch gewiss jeder sie sieht, mit stolz erhobenem Kopf. Können Sie sich vorstellen, wie das für eine Frau sein muss?« Diesmal protestierte Brummbär tatsächlich und hörte auch nicht mehr auf damit. Wie konnte er nur von einem Kind erwarten, die Gefühle einer reifen Frau nachzuvollziehen? Wie konnte man mir vorwerfen, dass ich das Geklatsche meiner Eltern nachplapperte? Also wirklich, Holmes, das war zu viel. Diesmal schien Silberstock ihm sogar zuzustimmen. Er glättete die V-förmige Falte auf seiner Stirn und entschuldigte sich.

«Dann lassen Sie uns auf den festeren Boden der Tatsachen zurückkehren und uns damit befassen, was Sie tatsächlich gesehen haben. Ich nehme an, dass das Hotel seit dem letzten Jahr nicht in irgendeiner Weise umgebaut wurde.« Ich warf wieder einen Blick auf die Rückseite des Hotels. Soweit ich sehen konnte, war es genauso wie vorher, mit den Glastüren, die vom Speisesaal und vom Frühstücksraum auf die Terrasse hinausführten und dem abschüssigen Ziegeldach darüber. An das Dach angrenzend die drei Hauptetagen mit den Gästezimmern des Hotels. Die meisten Leute wählten die beiden oberen Stockwerke, weil sie schmiedeeiserne Balkone hatten, auf denen man an sonnigen Tagen stehen und die Berge betrachten konnte. Darunter lagen die kleineren Zimmer.

Sie waren weniger beliebt, da sie direkt über der Küche und dem Speisesaal lagen, folglich den Lärm und die Küchengerüche abbekamen und außerdem keinen Balkon hatten.

An Brummbär gewandt, sagte Silberstock:»Das war das Zimmer, das sie im letzten Jahr hatten, im obersten Stockwerk, das zweite von rechts. Wenn er also gestoßen worden wäre, hätte er außer aus dem Fenster auch noch über den Balkon gestoßen werden müssen. Dazu wäre aber ziemlich viel Kraft nötig gewesen, meinen Sie nicht?« Die nächste Frage war an mich gerichtet. Er wollte wissen, ob ich Mr. McEvoy schon einmal gesehen hatte, bevor er aus dem Fenster gefallen war, und ich sagte, ja, ein paar Mal.

«War er ein kleiner Mensch?« «Nein, ziemlich groß und kräftig.« «Etwa so wie unser Dr. Watson?« Wie zur militärischen Musterung reckte Brummbär seine breiten Schultern.

«Er war dicker.« «Jünger oder älter?« «Ziemlich alt. So alt wie Sie.« Brummbär prustete und ließ die Schultern ein wenig sinken.

«Also haben wir einen Mann etwa so alt wie unser Freund Watson, nur schwerer. Ziemlich schwierig für eine Frau, meinen Sie nicht, ihn gegen seinen Willen zu stoßen, egal wohin?« «Vielleicht hat sie ihn überrascht und gesagt, er soll sich mal hinauslehnen und sich etwas ansehen, und ihm dann die Füße weggezogen.« Die Theorie stammte nicht von mir. Der Vorfall war im letzten Jahr natürlich unter sämtlichen Gesichtspunkten analysiert worden, und keine elterliche Vorsicht hätte mir das vorenthalten können.

«Eine rührende Vorstellung. Halten wir uns doch wieder an die Dinge, die wir mit Sicherheit wissen, ja? Lag letztes Jahr genauso viel Schnee wie jetzt?« «Ich glaube schon. Letztes Jahr ging er mir bis über die Knie. Dieses Jahr nicht ganz, aber ich bin ja auch gewachsen.« Brummbär murmelte:»Über so etwas wird es doch Aufzeichnungen geben.« «Gewiss, aber wir sind Miss Jessica auch dankbar für ihre persönlichen Einschätzungen. Dürfen wir Ihnen nur noch eine Frage stellen?« Ich bejahte ziemlich argwöhnisch.

«Sie sagten, kurz bevor Sie sich umgedreht haben und ihn fallen sahen, hörten Sie ihn ›nein‹ schreien. Was für ein ›Nein‹ war das denn?« Ich war verwirrt. Das hatte mich bis jetzt noch niemand gefragt.

«War es ein verärgertes Nein? Ein protestierendes Nein?

Die Art von Nein, die man schreit, wenn einen jemand vom Balkon stößt?« Der andere sah aus, als wollte er wieder etwas einwenden, blieb aber still. Die Intensität in Silberstocks Blick hätte sogar ein munter gluckerndes Bächlein gefrieren lassen. Als ich nicht gleich antwortete, entspannte er sich sichtlich, und seine Stimme wurde weicher.

«Es fällt Ihnen schwer, sich zu erinnern, nicht wahr?

Alle waren sich so sicher, dass es eine ganz bestimmte Art von Nein gewesen war, und nun hat sich diese Version in Ihrem Kopf festgesetzt. Ich möchte, dass Sie etwas für mich tun, wenn Sie so nett wären. Ich will, dass Sie vergessen, dass Dr. Watson und ich hier sind, und sich dahin stellen und auf den Eisplatz hinunterschauen, genau wie letztes Jahr. Ich will, dass Sie an gar nichts anderes denken und sich vorstellen, es ist wirklich letztes Jahr, und Sie hören diesen Schrei zum ersten Mal. Wollen Sie das tun?« Ich wandte den Blick von ihnen ab und betrachtete zuerst die diesjährigen Schlittschuhläufer, dann machte ich die Augen zu und versuchte, mich zu erinnern, wie es gewesen war. Während ich wartete, spürte ich den kratzigen grünen Schal um den Hals und die Kälte, die mir in Zehen und Finger kroch. Ich hörte den Schrei und musste mich richtig beherrschen, um mich nicht umzudrehen und die Gestalt wieder herunterpurzeln zu sehen. Als ich die Augen aufmachte und die beiden ansah, warteten sie immer noch geduldig.

«Ich glaube, ich weiß es wieder.« «Was für ein Nein war es?« Ich hatte es ganz klar im Kopf, konnte es aber schwer in Worte fassen.

«Es … es war, als ob er noch etwas hätte sagen wollen, wenn er Zeit gehabt hätte. Nicht bloß nein. Nein, und noch etwas anderes.« «Nein, und was noch?« Wieder Schweigen, während ich nachdachte, dann ein kleiner Ansporn von Brummbär.

«Hätte es ein Name sein können, mein Kind?« «Geben Sie ihr doch nicht noch mehr Ideen ein. Sie dachten, er hätte nach dem Nein noch etwas sagen wollen, wissen aber nicht was, ist es so?« «Ja, wie ›nein, kein Rennen‹, oder ›nein, kein Kuchen heute‹, bloß war es das nicht. Etwas, was man nicht tun konnte.« «Oder etwas, das fehlte, wie etwa der Kuchen?« «Ja, so ähnlich. Aber, das hätte es doch nicht sein können, oder?« «Nein? Wenn etwas auf eine bestimmte Weise geschieht, dann ist es geschehen, da gibt es kein könnte oder könnte nicht.« Solche Sachen sagen sonst eigentlich Gouvernanten, doch er lächelte dabei, und ich hatte irgendwie das Gefühl, ich hatte etwas gesagt, was ihm gefiel.

«Ich sehe, da kommen Ihre Mutter und Schwester, daher müssen wir diese höchst aufschlussreiche Unterhaltung wohl beenden, fürchte ich. Ich bin Ihnen für Ihre scharfe Beobachtungsgabe sehr zu Dank verpflichtet. Erlauben Sie mir, Ihnen weitere Fragen zu stellen, falls mir noch welche einfallen?« Ich nickte.

«Ist das jetzt ein Geheimnis?« «Möchten Sie gern, dass es eines ist?« «Holmes, ich finde, wir sollten die junge Dame nicht dazu verleiten …« «Mein lieber Watson, meiner Auffassung nach kann man einem Kind kein kostbareres Geschenk machen, als wenn man es ein Geheimnis bewahren lässt.« Meine Mutter kam mit Amanda über die Terrasse herüber. Silberstock und Brummbär tippten sich zum Gruß an die Mützen und wünschten uns einen schönen Spaziergang. Als meine Mutter mich später fragte, worüber wir gesprochen hatten, sagte ich, sie hätten wissen wollen, ob der Schnee letztes Jahr auch so tief gewesen sei — und behielt das Geheimnis meiner Komplizenschaft für mich. In meiner Fantasie wurde ich sein Spähauge und sein Lauschohr. Bei der Kinderfeier an Heiligabend redeten die Erwachsenen mit gedämpfter Stimme und glaubten, wir wären ganz in den Geschenktrubel um den Hotelbaum versunken. Es hätte aber mehr als den Portier im roten Mantel und weißen Schnurrbart gebraucht oder seine großzügige Gabe von drei Holzgänsen an einer Schnur, um mich von meiner Arbeit abzulenken. Ich lauschte und bewahrte jedes Fitzelchen an Information auf für später, wenn er mich wieder befragen würde. Und ich beobachtete Mrs. McEvoy, wie sie den ganzen Weihnachtsabend und Weihnachtstag im Hotel umherging, blass und aufrecht in ihrem Schwarz und den Juwelen, und das Schweigen hinter sich her zog wie die lange Schleppe an einem Kleid.