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Mein Aufruf erfolgte am zweiten Weihnachtsfeiertag. Es gab wieder eine Schneeballschlacht auf dem Hotelgelände, diesmal mit Eltern. Ich hielt mich ziemlich heraus und wartete neben einem Grüppchen von kahlen Birken, als Silberstock und Brummbär tatsächlich zu mir herüberkamen.

«Ich habe eine Menge über sie herausgefunden«, sagte ich.

«So, so, haben Sie das?« «Er war ihr zweiter Mann. Sie hatte schon mal einen, den sie mehr liebte, der ist aber am Fieber gestorben. Das war, als sie vor langer Zeit mal in Ägypten waren.« «Vor zehn Jahren.« Silberstocks Stimme klang abwesend. Er sah mich nicht einmal an.

«Vor drei Jahren hat sie Mr. McEvoy geheiratet. Die meisten Leute sagen, wegen seinem Geld, aber auf der Feier war auch eine amerikanische Dame, die meinte, Mr.

McEvoy sei auf den ersten Blick ziemlich nett gewesen und hätte sich für Musik und Sänger interessiert, also war es vielleicht so eine Ehe, bei der sich die Leute ganz gern haben, aber nicht ineinander verliebt sind, verstehen Sie?« Ich dachte eigentlich, ich hätte mich ganz tapfer geschlagen. Ich wollte, dass es so klang wie bei meiner Mutter, wenn sie mit ihren Freundinnen redete, und in meinen Ohren hörte es sich auch ganz überzeugend an. Ich war enttäuscht über die ausbleibende Reaktion und fuhr deshalb meine schweren Geschütze auf.

«Bloß mochte sie ihn danach nicht mehr so, denn nachdem sie geheiratet hatten, fand sie das mit seinem Auge heraus.« «Seinem Auge?« Endlich eine Reaktion, allerdings von Brummbär, nicht von Silberstock. Ich kam auch gleich auf das richtige Wort und klammerte mich daran fest.

«Riskiert. Er hat gern mal ein Auge riskiert. Also, er guckte immer andere Damen an, und das gefiel ihr nicht.« Ich hoffte, sie würden verstehen, dass es bedeutete, man guckte auf eine ganz spezielle Weise. Ich wusste selbst nicht recht, auf was für eine spezielle Weise, aber als die Erwachsenen bei der Feier darüber redeten, verstanden sie einander offensichtlich. Es kam mir allerdings so vor, als hätte ich die beiden überschätzt, denn sie standen bloß da und starrten mich an. Vielleicht war Silberstock doch nicht so schlau, wie ich geglaubt hatte. Ich rückte mein letztes Restchen an Information heraus, etwas, was jeder begreifen würde.

«Ich habe ihren Vornamen herausgekriegt. Irene.« Brummbär räusperte sich. Silberstock sagte gar nichts.

Er blickte über meinen Kopf hinweg zu der Schneeballschlacht.

«Holmes, ich finde wirklich, wir sollten Miss Jessica mit ihren kleinen Freunden spielen lassen.« «Noch nicht. Ich möchte sie etwas fragen. Erinnern Sie sich noch an das Hotelpersonal vom letzten Weihnachten?« Was für eine grässliche Enttäuschung! Da war ich nun zu ihm gekommen, den Kopf voll gepackt mit Liebe, Geld und Hochzeiten, und er erkundigte sich nach den Bediensteten. Vielleicht wirkte meine enttäuschte Miene wie Begriffsstutzigkeit, denn sein Ton wurde ungehalten.

«Die Leute, die sich um euch gekümmert haben, die Portiers und die Kellner und die Zimmermädchen, besonders die Zimmermädchen.« «Es sind immer noch die gleichen … glaube ich. «Ich ging sie im Kopf durch. Da war Petra mit ihren dicken Zöpfen, die uns die Tassen mit heißer Schokolade brachte, die runde Renate, die uns die Betten machte, die grauhaarige Ulrike mit dem Hinkebein.

«Ist niemand weggegangen?« «Ich glaube nicht.« Dann war die Erinnerung plötzlich wieder da: blonde Ringellocken, die unter der Zimmermädchenhaube hervorquollen, und die klare Stimme, mit der sie sang und dabei die Korridore kehrte, froh und unbeschwert wie ein Vogel im Wind.

«Da war noch Eva, aber die hat geheiratet.« «Wen hat sie geheiratet?« «Franz, den Mann, der den Schlitten hat.« Der flog gerade die Auffahrt hinunter, als ich das sagte, mit klingelnden Silberglöckchen und dem kleinen Pferd, das im Sonnenschein golden glänzte.

«Eine gute Partie für ein Zimmermädchen im Hotel.« «O, letztes Jahr hatte er den Schlitten noch nicht. Da war er bloß der zweite Portier.« «So, so. Watson, ich glaube, mit dem müssen wir mal eine Schlittenfahrt machen. Sprechen Sie mit dem Chefportier wegen der Buchung?« Ich hoffte, er würde mich auch dazu einladen, aber davon war nicht die Rede. Trotzdem schien sich seine Stimmung wieder gebessert zu haben — obwohl ich kaum glaubte, dass es an dem lag, was ich ihm erzählt hatte.

«Miss Jessica, ich bin Ihnen wieder sehr zu Dank verpflichtet. Um einen Gefallen werde ich Sie vielleicht noch bitten müssen, aber alles zu seiner Zeit.« Widerwillig kehrte ich zu den Schneeballwerfern zurück, während die beiden durch den Schnee ins Hotel gingen.

Als wir nachmittags dann unseren Spaziergang machten, fuhren sie die Auffahrt hinunter in Franzens Schlitten an uns vorbei. Es sah nicht nach einer Vergnügungsfahrt aus.

Franzens hübsches Gesicht war ernst, und Holmes blickte starr geradeaus. Statt sich am Ende der Hotelauffahrt in Richtung Wald zu wenden, bogen sie links ab ins Dorf.

Unser Spaziergang führte uns ebenfalls ins Dorf, weil Vater bei einem alten Mann vorbeischauen wollte, um sich einen Spazierstock schnitzen zu lassen. Als wir die kleine Hauptstraße hinuntergingen, sahen wir den Schlitten samt Pferd vor einem properen Chalet mit grünen Fensterläden neben der Kirche stehen. Ich wusste, dass es Franzens eigenes Haus war, und fragte mich, was aus seinen Fahrgästen geworden war. Etwa eine halbe Stunde später, als wir das mit Vaters Spazierstock erledigt hatten und wieder die Straße hinaufgingen, sahen wir Holmes und Watson draußen auf dem Balkon des Chalets stehen — mit Eva, dem Zimmermädchen vom letzten Jahr. Ihr helles Haar war lockig wie immer, doch sie hielt den Kopf gesenkt und schien aufmerksam dem zu lauschen, was Holmes gerade sagte. An ihren hängenden Schultern sah ich, dass sie nicht glücklich war.

«Wieso redet Silberstock mit ihr?« Wie es sich gehörte, wurde Amanda getadelt, weil sie hingestarrt und nach Sachen gefragt hatte, die sie nichts angingen. Weil ich älter und klüger war, sagte ich nichts, sondern bewahrte mein Geheimnis fest in meinem Herzen.

Hatte Eva ihn hinuntergestoßen? Würde man sie ins Gefängnis stecken? In meine Freude mischten sich Schuldgefühle, weil er das mit Eva ja nicht erfahren hätte, wenn ich es ihm nicht gesagt hätte, aber nicht so viele, dass es mir die Sache verdorben hätte. Später hielt ich aus unserem Fenster Ausschau und hoffte, den Schlitten zurückkommen zu sehen, der an dem Tag aber nicht mehr kam. Stattdessen kehrten Holmes und Watson kurz vor Einbruch der Dunkelheit zu Fuß zurück. Raschen Schrittes und schweigend kamen sie die Auffahrt herauf.

Am nächsten Morgen kam Brummbär beim Frühstück zu Mutter an den Tisch.»Ob Sie wohl gestatten, dass ich Miss Jessica auf einen kurzen Spaziergang auf die Terrasse mitnehme?« Mutter zögerte, aber Brummbär war offenkundig sehr seriös, und überhaupt konnte man die Terrasse vom Frühstücksraum aus einsehen. Ich setzte meine Mütze auf, zog Mantel und Handschuhe an und ging mit ihm durch die Glastür hinaus in die kalte Luft. Wir sahen zum Eislaufplatz hinunter, von genau der gleichen Stelle aus, an der ich gestanden hatte, als sie das erste Mal mit mir gesprochen hatten. Ich wusste, dass das kein Zufall war.

Brummbärs hektische Betriebsamkeit, die Spannung in seiner Stimme, die er erfolglos zu verbergen suchte, ließen keinen Zweifel. Irgendetwas stimmte auch nicht mit der Terrasse — es waren viel mehr Leute darauf als sonst an einem kalten Vormittag. Etwa zwei Dutzend standen steif in Grüppchen herum, unterhielten sich und warteten.

«Wo ist Mr. Holmes?« Brummbär sah mich an, die Augen vor Kälte tränend.

«Ehrlich gesagt, mein Kind, weiß ich nicht, wo er steckt oder was er treibt. Er hat mir beim Frühstück meine Anweisungen gegeben, und seither habe ich ihn nicht mehr gesehen.« «Anweisungen über mich?« Bevor er antworten konnte, ertönte der Schrei. Es war der Schrei eines Mannes; er durchschnitt die Luft wie ein Sägeblatt und bestand aus einem Wort. Das Wort lautete «Nein«. Ich wandte mich ab, mir stockte der Atem, und genau wie im letzten Jahr war da ein dunkles Ding in der Luft, um das die Kleider flatterten. Alle Leute auf der Terrasse hielten gleichzeitig den Atem an, dann ertönte ein dumpfer Aufprall, als das Ding im tiefen Schnee auf dem Restaurantdach aufschlug und abzurutschen begann. Ich hörte wieder» Nein«, aber diesmal war es meine eigene Stimme, denn vom letzten Jahr wusste ich, was als Nächstes kommen würde — die Rutschpartie vom abschüssigen Dach, der zusammengeschobene Schnee, der Knall auf die Terrasse nur ein paar Meter von der Stelle, an der ich jetzt stand, der herausragende Arm.