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Zunächst war die Erinnerung so stark, dass ich dachte, ich würde das vor mir sehen, und es dauerte ein paar Sekunden, bis ich begriff, dass es sich gar nicht so abspielte. Das Ding war ein wenig zur Seite gefallen, und anstatt geradeaus das Dach hinunterzurutschen, geriet es an ein kleines Ziergeländer am Rand, wo das Hauptgebäude des Hotels in den Anbau überging, und schob dabei einen Schneekeil vor sich her. Dann sagte jemand ungläubig:»Er ist liegen geblieben!«Das Ding war tatsächlich liegen geblieben. Statt über das Dach auf die Terrasse zu stürzen, war es gegen das Geländer geschoben worden, wie ein walzenförmiger Schneeball in Schnee eingerollt, und etwa einen Meter vor der Kante liegen geblieben. Dann setzte es sich auf, klammerte sich mit einer Hand an das Geländer, von der Körpermitte abwärts mit Schnee bedeckt. Falls er eine Mütze aufgehabt hatte, als er aus dem Fenster fiel, so hatte er sie beim Fallen verloren, denn sein feuchtes Haar glänzte silbern über seinem lächelnden, braunen Gesicht. Es war ein nach innen gekehrtes Lächeln, als könnte nur er allein richtig ermessen, was er da soeben getan hatte.

Dann begannen die Leute wild durcheinander zu reden.

Ein paar schrieen nach einer Leiter, andere rannten herum.

Die Übrigen fragten sich gegenseitig, was denn passiert sei, bis jemand drei Stockwerke über uns das weit offen stehende Fenster bemerkte.

«Ihr Fenster. Mrs. McEvoys Fenster.« «Er ist von Mrs. McEvoys Balkon gefallen, genau wie letztes Jahr.« «Aber er ist doch gar nicht …« Irgendwann hatte Brummbär mir die Hand auf die Schulter gelegt. Jetzt beugte er sich zu mir herunter, blickte mir besorgt ins Gesicht und sagte, wir sollten hineingehen zu meiner Mutter. Mir wäre lieber gewesen, er ginge mir aus dem Weg, damit ich Silberstock auf dem Dach sehen konnte. Dann kam Mutter angerauscht, Wolken von Parfüm und Theatralik verströmend. Ich musste natürlich hinein, aber vorher sah ich noch, wie die Leiter ankam und Silberstock herunterstieg, ein wenig steif zwar, jedoch voller Würde. Und noch etwas. In dem Moment, als er von der Leiter stieg, öffnete sich die Glastür zur Terrasse und» sie «trat heraus. Sie war nicht dabei gewesen, als es geschehen war, doch nun schritt sie in ihrer schwarzen Pelzjacke zwischen den Leuten hindurch, als ob sie gar nicht vorhanden wären, reichte ihm die Hand und bedankte sich.

Wie an den anderen Abenden speiste sie allein an ihrem Tisch, brauchte aber länger, um dorthin zu gelangen. Ihr langer Gang quer durch den Speisesaal wurde noch verlängert von all den Leuten, die mit ihr sprechen wollten, sich nach ihrem Befinden erkundigten, ihr sagten, wie sehr sie sich freuten, sie wieder zu sehen. Es war, als wäre sie an dem Nachmittag erst angekommen und nicht schon fünf Tage dort gewesen. Mehrere Blumensträußchen standen auf ihrem Tisch, die anscheinend extra aus der Stadt heraufgeschickt worden waren, daneben Champagner in einem silbernen Kübel.

Silberstock und Brummbär verbeugten sich, als sie an ihrem Tisch vorbeiging, aber mit einem gewöhnlichen höflichen leichten Nicken, nicht wie an jenem ersten Abend. Als sie ihnen ein Lächeln schenkte, war es, als würde die Sonne aufgehen.

Wir wurden wie gewöhnlich sofort nach der Suppe ins Bett geschickt. Amanda schlief gleich ein, aber ich lag noch wach und ärgerte mich, dass ich von den wirklich wichtigen Dingen ausgeschlossen war. Da der kleine Salon unserer Eltern neben unserem Schlafzimmer lag, hörte ich sie hereinkommen. Sie waren immer noch aufgeregt. Kurz darauf klopfte es an der Tür zu unserer Suite, Stimmengemurmel ertönte, woraufhin mein Vater etwas verblüfft sagte:»Ja, dann kommen Sie doch bitte herein. «Dann ihre Stimmen, erst die von Brummbär, der sich umständlich entschuldigte, es sei ja schon so spät, dann die von Silberstock, der ihn unwirsch abfertigte:»Es ist so, wir schulden Ihnen eine Erklärung, beziehungsweise Ihrer Tochter. Dr. Watson meinte, wir sollten sie Ihnen geben, damit Sie es Jessica irgendwann in der Zukunft, wenn sie alt genug ist, vielleicht sagen können.« Hätte ich eine Truhe voller Gold gehabt und gerade gesehen, wie jemand sie in einer bevölkerten Straße wegwarf, ich hätte nicht wütender sein können: zu hören, wie mein Geheimnis hier preisgegeben wurde. Mein erster Gedanke war, barfuss und im Nachthemd ins Nebenzimmer zu stürmen und zu verlangen, dass er mit mir redete, nicht mit ihnen. Dann gewann die Vorsicht die Oberhand. Ich stieg zwar aus dem Bett, ging aber nur bis zur Tür, öffnete sie einen Spalt, um besser hören zu können, und tappte wieder zurück ins Bett. Ich hörte, wie Sessel gerückt wurden und Leute sich darauf niederließen, dann ertönte Silberstocks Stimme.

«Ich sollte gleich zu Anfang sagen, Dr. Watson und ich — aus Gründen, die hier nicht erörtert zu werden brauchen — waren überzeugt, dass Irene McEvoy ihrem Mann nicht den tödlichen Stoß versetzt hat. Die Frage war, wie man es beweisen sollte, und in dieser Hinsicht war die Aussage Ihrer Tochter unverzichtbar. Sie allein sah Mr. McEvoy fallen, und nur sie hörte, was er schrie. Das akkurate kindliche Ohr — nachdem es gewisse dumme Bemerkungen der Erwachsenen aussortiert hatte – registrierte diesen Schrei so präzise wie ein Phonograph und wusste, dass es genau genommen nur die Hälfte eines Schreis war, dem Mr. McEvoy, wenn er Zeit gehabt hätte, noch etwas hinzugefügt hätte.« Pause. Ich saß aufrecht im Bett, die Tagesdecke um den Hals, und spitzte die Ohren, damit mir auch nicht ein Wort davon entging, was er mit seiner ruhigen, klaren Stimme äußerte.

«Nein — und dann noch etwas. Die Frage war, nein und was? Mr. McEvoy hatte erwartet, dass etwas dort war, und sein letzter Gedanke auf Erden galt der Überraschung darüber, dass es fehlte, einer Überraschung, die so heftig war, dass er sie mit seinem letzten Atemzug herausschreien wollte. Die Frage war nun, was es gewesen sein könnte.« Schweigen, Warten auf eine Antwort, doch niemand sagte etwas.

«Wenn Sie sich einmal die Rückseite des Hotels von der Terrasse aus ansehen, wird Ihnen eines ganz klar auffallen: Der zweite und der dritte Stock sind mit Baikonen ausgestattet. Der erste Stock nicht. Das Zimmer, das Mr. und Mrs. McEvoy bewohnten, hatte einen Balkon.

Jemand, der in der Suite wohnte, würde sich das merken.

Nicht unbedingt merken würde er sich — falls er nicht ein außergewöhnlich genauer Beobachter war —, dass die Zimmer im ersten Stock keine Balkone haben. Bis es zu spät war. Ich habe mir nun die Theorie zurechtgelegt, dass Mr. McEvoy in der Tat nicht aus dem Fenster seines eigenen Zimmers gefallen war, sondern aus einem der unteren Zimmer, das jemand anderem gehörte. Das erklärt auch seine unvollendeten letzten Worte: ›Nein … kein …

Balkon.‹« Meine Mutter rang nach Luft. Mein Vater sagte:

«Gütiger Himmel …« «Nachdem ich zu dieser Schlussfolgerung gelangt war, blieb noch die Frage, was Mr. McEvoy im Zimmer einer anderen Person zu suchen hatte. Diebstahl war auszuschließen, da er ein sehr reicher Mann war. Er wollte sich also mit jemandem treffen. Die nächste Frage war, mit wem. Und hier war Ihre Tochter auf eine Weise behilflich, die sie in ihrem jungen Alter noch nicht begreifen kann. Sie vertraute uns in aller Unschuld an, die Erwachsenen klatschen gehört zu haben, wonach der verstorbene Mr.