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Zu den wesentlichen Eigenschaften der bemerkenswert vielseitigen Oates gehört auch ihr tiefes Verständnis für die zahlreichen Nöte von Jugendlichen, was in» Totschlag«, zusammen mit Oates lebhaft beschreibendem Stil und der unkonventionellen Bearbeitung einer typischen Situation des Kriminalromans, eindrucksvoll belegt wird.

Er schwor Folgendes: Er war nach elf Uhr abends in das Haus an der East End Avenue zurückgekommen, hatte die Haustür offen gefunden und seine Mutter in einer Tintenlache auf den Hartholzdielen am Fuße der Treppe.

Offensichtlich war sie die steile Treppe hinuntergefallen und hatte sich, ihrem verdrehten Oberkörper nach zu urteilen, das Genick gebrochen. Außerdem war ihr Hinterkopf eingedrückt, sie war erschlagen worden, mit einem ihrer eigenen Golfschläger, dem Zweiereisen, aber offensichtlich hatte er das im ersten Augenblick nicht gesehen.

Tintenlache? — na ja, das Blut hatte im Halbdunkel der Halle eben schwarz ausgesehen. Seine Augen spielten ihm zuweilen einen Streich, wenn er zu intensiv gelernt, zu wenig geschlafen hatte. Ein optischer Tick. Das heißt, er sah etwas, mehr oder weniger, was durchaus da war, aber der Verstand nahm es als etwas ganz anderes wahr. Als hätte man einen gelegentlichen Aussetzer im neurologischen Programm.

Im Falle von Derek Peck junior, der sich vor dem gekrümmten, leblosen Körper seiner Mutter sah, war es ein offensichtliches Symptom seines Schocks. Ein Trauma, die innere Taubheit, die für den Ausschluss des Unmittelbaren sorgt — des Schmerzes, des Unsagbaren, des Unkennbaren. Zuletzt hatte er seine Mutter — im selben dotterblumengelben wattierten Hausmantel, der ihr das Aussehen eines überdimensionalen Osterspielzeugs verlieh — früh am Morgen gesehen, bevor er zur Schule gegangen war. Es war den ganzen Tag über nicht zu Hause gewesen. Und dieser urplötzliche Übergang — von der Differentialrechnung zu der Leiche am Boden, von den angstbefrachteten Scherzen seiner Freunde aus dem Mathe-Club (der harte Kern traf sich wochentags, spät, um sich auf die Aufnahmeprüfung fürs College vorzubereiten) zu der tiefen, schrecklichen Stille im Haus, die ihm, schon als er die merkwürdigerweise unverschlossene Tür aufgestoßen hatte, feindselig vorgekommen war, eine Stille, in der das Grauen schier mit Händen zu greifen war.

Er beugte sich über die Leiche und starrte sie fassungslos an.

«Mutter? Mutter! « Als wäre er es gewesen, der etwas angestellt hatte und nun zu bestrafen war.

Er bekam keine Luft mehr. Er hyperventilierte! Sein Herz klopfte wie wild, dass er schier das Bewusstsein verlor. Viel zu verwirrt, um zu denken: Vielleicht sind sie noch da? Oben! In seiner Benommenheit schien ihm selbst der animalische Selbsterhaltungstrieb abzugehen.

Ja, und irgendwie fühlte er sich schuldig. Sie hatte ihm diesen Schuldreflex eingebläut. Was auch immer im Haus nicht stimmte, die Ursache lag wahrscheinlich bei ihm.

Vom dreizehnten Lebensjahr an (als sein Vater, Derek senior, sich von seiner Mutter, Lucille, hatte scheiden lassen, was einer Scheidung von ihm, Derek junior, gleichgekommen war) hatte seine Mutter von ihm erwartet, der zweite Erwachsene im Haushalt zu sein. Und so schoss er hoch auf, wurde schlaksig, nervös, als wollte er diese Erwartung erfüllen, und als seine sandfarbene Körperbehaarung zu sprießen begann, stellte sich um seine Augen eine fieberhafte Verbissenheit ein. Dreiundfünfzig Prozent von Dereks Klassenkameraden, Jungen und Mädchen, an der Mayhew Academy, stammten aus «geschiedenen Familien«, und die meisten waren sich einig, das Schlimmste daran war, lernen zu müssen, sich wie ein Erwachsener zu benehmen, obwohl man, ein Erwachsener zweiter Klasse, praktisch seiner bürgerlichen Ehrenrechte verlustig gegangen war. Das war nicht leicht, auch nicht für einen ausgebufften Stoiker wie Derek Peck mit seinem IQ von — wie hoch gleich wieder? — 158, und das, obwohl er erst fünfzehn — mittlerweile waren es siebzehn — Jahre alt war. Und so war das ohnehin schon prekäre Selbstgefühl des Halbwüchsigen ernsthaft in Schräglage geraten, nicht nur hinsichtlich seines Körpergefühls (seine Mutter hatte zugelassen, dass er schon als Kleinkind übergewichtig wurde, was einem, wie es hieß, unwiderruflich in die Urzellen des Gehirns gebrannt war), nein, wichtiger noch hinsichtlich seiner Stellung im Leben. Behandelte sie ihn im einen Augenblick wie ein Kind und nannte ihn ihr» Baby«, ihren «kleinen Jungen«, so tat sie im nächsten Augenblick beleidigt, ja vorwurfsvoll, und beschuldigte ihn, es mangele ihm ihr gegenüber, wie seinem Vater, an Gefühl für seine moralische Pflicht.

Diese» moralische Pflicht «war eine ganz gewaltige Last. Er spürte sie, kaum, dass er morgens aufwachte, verflucht noch mal. Scheiße, er spürte das Gewicht der Welt, noch bevor er die Beine aus dem Bett nahm.

Als er jetzt so über ihr kauerte, zitternd, gebeutelt wie von einem eisigen Wind, flüsterte er:»Mommy? Kannst du nicht aufwachen? Mommy, du bist doch nicht …«Er sperrte sich gegen das Wort» tot«, weil es Lucille verletzt und aufgebracht hätte — wie» alt«. Nicht, dass sie eitel gewesen wäre, oberflächlich, unsicher, nein, ganz im Gegenteil, Lucille Peck war nichts dergleichen, eine Frau mit Würde, sagten andere Frauen bewundernd von ihr, Frauen, die nicht in ihrer Haut hätten stecken mögen, und Männer, die nicht mit ihr verheiratet hätten sein wollen.

Mommy, du bist doch nicht alt! Was Derek natürlich nie laut gesagt hätte. Obwohl er es sich möglicherweise selbst immer wieder gesagt hatte dieses vergangene Jahr, als er ihr blasses, grobknochiges, tapferes Gesicht im harten Sonnenlicht sah, wenn sie morgens zusammen die Treppe hinuntergingen, oder in jener geradezu unheimlichen Haltung in der Küche, wo sich das Licht der eingelassenen Deckenlampen auf ihrem Gesicht als grausamer senkrechter Schatten traf — als hätte sie Blutergüsse in den Augenhöhlen und den weichen Falten ihrer fleischigen Backenpartien. Zwei Sommer zuvor, als er zwei Wochen am Lake Placid gewesen und sie ihn am Kennedy Airport abholen gekommen war, so erpicht darauf, ihn zu sehen, hatte er sie angestarrt, entsetzt über die harten Falten, die ihren Mund in Klammern setzten wie bei einem Hecht. Ihr Lächeln war zu glücklich gewesen, und er hatte Mitleid mit ihr gehabt, und selbst dabei hatte er sich schuldig gefühlt. Man hat doch kein Mitleid mit seiner Mutter, du Arsch!

Wäre er doch gleich nach der Schule nach Hause gegangen. So gegen vier. Stattdessen eine flüchtige Mitteilung auf dem Anrufbeantworter bei seinem Freund Andy auf der anderen Seite des Parks: Mutter? Sorry, ich werd’s wohl zum Abendessen nicht schaffen, okay? Der Mathe-Club. Pauken. Differenzialrechnung. Warte bitte nicht auf mich, ja? Wie erleichtert war er gewesen, dass sie nicht mitten in seiner Mitteilung rangegangen war.

Hatte sie bei seinem Anruf noch gelebt? Oder war sie schon … tot?

Wann hast du deine Mutter das letzte Mal lebend gesehen, Derek? hatte man ihn gefragt, und er hatte improvisieren müssen, denn gesehen hatte er sie genau genommen gar nicht. Kein Augenkontakt.

Und was hatte er gesagt? Ein hektischer Schulmorgen, ein Donnerstag. Nichts Besonderes. Keine Vorahnung!

Kalt und windig, ein greller Wintertag, und er hatte es kaum erwarten können, aus dem Haus zu kommen, hatte sich eine Diät-Coke aus dem Kühlschrank geholt, so kalt, dass sie an den Zähnen wehtat. Kaum, dass er ihn wahrgenommen hatte, den tadelnden Blick seiner Mutter in der Küche, in ihrem weiten dotterblumengelben Steppmantel, als er ging, im Rückwärtsgang, lächelnd: