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«Bye, Mom!« Natürlich war sie verletzt gewesen — ihr einziger Sohn ging ihr aus dem Weg. Sie war eine einsame Frau gewesen, mitsamt ihrem Stolz. Und das trotz der Aktivitäten, die ihr so viel bedeuteten: der Frauen-Kunst-und Kulturverein, die Freiwillige Familienberatung an der East Side, Das HealthStyle Fitness Center, im Sommer Tennis und Golf in East Hampton, das Abonnement für das Lincoln Center. Und ihre Freundinnen, zumeist geschiedene Frauen mittleren Alters, Mütter wie sie mit Kindern an der High School oder am College. Lucille war einsam, ja, aber war das seine Schuld? Als hätte er im letzten Jahr an der Vorbereitungsschule nicht deshalb so fanatisch auf seine Noten gesehen, weil er besessen war von dem Gedanken, frühstmöglich nach Harvard, Yale, Brown oder Berkeley zu kommen, sondern um seiner Mutter morgens, zu jener Tageszeit, in der man so ungeschützt und empfindlich ist, nicht in die Augen zu sehen.

Aber, Gott, wie sehr hatte er sie geliebt! Wirklich. Er hatte vorgehabt, alles wieder gutzumachen, sie zum Champagner-Brunch ins Stanhope einzuladen, mit einer der besten Aufnahmeprüfungen überhaupt, um dann mit ihr ins Museum gleich gegenüber zu gehen, auf Entdeckungsreise, Mutter und Sohn, wie schon seit Jahren nicht mehr.

Wie reglos sie dalag. Er wagte nicht, sie zu berühren. Er atmete unregelmäßig und kurz. Das tintenschwarze Etwas unter ihrem Kopf war in die Risse im Boden gesickert, geronnen. Ihr linker Arm war wie zu einer erbosten Bitte gestreckt, der Ärmel voll roter Flecken, die Hand mit der Innenseite nach oben, die Finger zu einer zornigen Klaue gekrümmt. Ihm hätte auffallen können, dass ihre Uhr, eine Movado, fehlte, ihre Ringe, außer Großmutters altem Opal in der geriffelten Goldfassung — hatte den der Dieb, die Diebe, nicht von den geschwollenen Fingern gebracht?

Ihm hätte auffallen können, dass ihre Augen asymmetrisch verdreht waren, die Iris des rechten fast nicht mehr zu sehen, während die des linken wie ein betrunkener Halbmond aussah. Ihm hätte auffallen können, dass ihr Hinterkopf weich und matschig war wie eine Melone, aber es gibt eben Dinge, die man an der eigenen Mutter schon aus Takt und Feingefühl übersah. Mutters Haar jedoch — es war das einzig Gute, so hatte sie gesagt, was ihr geblieben war. Ein blasses Silberbraun, etwas grob, eine natürliche Farbe wie die von Wheaties. Die Mütter seiner Klassenkameraden hofften alle, jung und bezaubernd zu wirken mit ihrem gebleichten oder gefärbten Haar, aber nicht so Lucille Peck, sie war dafür nicht der Typ. Von ihr erwartete man rote Wangen auch ohne Make-up, und an guten Tagen hatte sie sie.

Zu dieser späten Stunde hätte Lucilles Haar bereits wieder trocken sein sollen, nachdem sie, wie Derek sich erinnerte, doch schon vor Stunden geduscht hatte; das Bad oben war voller Dampf. Die Spiegel. Er bekam kaum noch Luft! Hatte sie Karten für irgendein Konzert oder Ballett im Lincoln Center gehabt? Lucille und eine Freundin?

Derek wusste es nicht. Oder wenn er es gewusst hatte, dann hatte er es wieder vergessen. Wie das mit dem Golfschläger, dem Zweiereisen. In welchem Schrank?

Oben oder unten? Die Schubladen von Lucilles Spiegelkommode im Schlafzimmer waren durchwühlt, Dereks neuer Macintosh vom Schreibtisch genommen und vor der Tür zu Boden geworfen, als hätten … ja was? Sie hatten es sich anders überlegt. Lieber nach schnellem Bargeld für Drogen gesucht. Das war das Motiv!

Was hat Popel denn jetzt wieder vor? Was geht denn mit dem Popelmann ab?

Schließlich berührte er sie. Tastete nach der großen Ader im Hals — Schlagader? — Halsschlagader? Sie hätte pulsieren sollen, tat es aber nicht. Und ihre Haut so klamm, so kalt. Seine Hand zuckte zurück, als hätte er sich verbrannt.

Verflucht noch mal, war das denn möglich — Lucille war tot? Und ihm würde man die Schuld dafür geben?

Dieser Popel, Mann! Das ist vielleicht ’n irrer Typ.

Seine Nasenflügel bebten; Tränen traten ihm in die Augen. Er war in Panik; er musste Hilfe holen. Es wurde Zeit! Aber die Zeit war ihm ja doch wohl nicht aufgefallen, oder? 11 Uhr 48. Er trug eine elegante Omega mit schwarzem Zifferblatt, die er sich von seinem eigenen Geld gekauft hatte, aber der Zeit wäre er sich wohl nicht bewusst. Inzwischen hätte er doch schon die Polizei gerufen. Nur, dass er verwirrt dachte, man hätte wohl das Telefon rausgerissen? (Hatte man es herausgerissen?) Oder dass einer von ihnen, einer von den Mördern seiner Mutter, neben dem Telefon in der finsteren Küche stand?

Darauf wartete, auch ihn umzubringen?

Er geriet in Panik; er drehte durch. Er lief zurück zur Haustür und stolperte schreiend auf die Straße, wo ein Taxi das Tempo drosselte, um ein älteres Paar aussteigen zu lassen, Nachbarn von dem Sandsteinhaus nebenan. Das Paar und der Fahrer starrten dem kreidebleichen, von Schmerz gezeichneten Jungen im offenen Dufflecoat entgegen, der schreiend auf die Straße gelaufen kam.

«Hilfe! Helft uns! Man hat meine Mutter ermordet!« FRAU VON DER EAST SIDE ERMORDET MOTIV VERMUTLICH RAUB Eine Spätausgabe der New York Times vom Freitag brachte den» Golfschläger-Mord «an Lucille Peck – Marina Dyer hatte sie noch als Lucy Siddons gekannt – gleich auf der ersten Seite des Metro-Teils. Beim Überfliegen der Seite richtete Marinas flinker Blick sich sofort auf das Gesicht (mittleres Alter, fleischig, aber nicht zu verkennen) ihrer alten Klassenkameradin am Finch.

«Lucy! Nein!« Man wusste auf Anhieb, dass es sich um das Foto einer Toten handelte, aufgrund der Position in der oberen Mitte — die Huldigung an eine Privatperson ohne offensichtliche politische oder kulturelle Bedeutung und noch nicht einmal schön. Für Times-Leser lag der Nachrichtenwert in der Adresse des Opfers, die unweit der des Bürgermeisters gelegen war. Zwischen den Zeilen hieß das: Selbst hier, unter den abgesondert lebenden Reichen, ist ein so brutales Schicksal möglich.

Unter Schock, aber durchaus mit professionellem Interesse — Marina Dyer war Strafverteidigerin — las sie den Artikel, der auf einer der inneren Seiten fortgesetzt wurde, aber in seiner Kürze letztlich enttäuschend war. Es hörte sich so vertraut an, dass es wie eine Ballade klang: eine von uns (weiß, mittleren Alters, unbescholten und unbewaffnet) überrascht und brutal ermordet, und das im eigenen heiligen Heim; mit dem Golfschläger als Mordwaffe hatte sich der Mörder ein Instrument der privilegierten Klasse geschnappt. Der Eindringling, die Eindringlinge, so die Polizei, suchte nach dem schnellen Dollar für Drogen. Es war ein skrupelloses, grausames Verbrechen, ein» unsinniges «Verbrechen, einer von einer ganzen Reihe von ungeklärten Einbrüchen an der East Side seit letztem September, wenn auch der erste mit einem Mord. Lucille Pecks Sohn, ein Teenager noch, war nach Hause gekommen, hatte die Haustür offen vorgefunden und seine Mutter tot; das war gegen elf Uhr abends; zu diesem Zeitpunkt war sie schätzungsweise bereits fünf Stunden tot. Die Nachbarn sagten, sie hätten aus dem Haus der Pecks nichts Ungewöhnliches gehört, einige sprachen jedoch von» verdächtigen «Fremden in der Gegend. Die Polizei» ermittelte«.

Arme Lucy!

Wie Marina sah, war ihre ehemalige Klassenkameradin vierundvierzig Jahre alt, ein Jahr (wenn auch wahrscheinlich kein ganzes) älter als Marina selbst; außerdem war sie seit 1991 geschieden, von Derek Peck, der leitender Angestellter bei einer Versicherung und jetzt in Boston zu Hause war; sie hinterließ ein einziges Kind, Derek Peck junior, eine Schwester und zwei Brüder. Was für ein Ende für Lucy Siddons, die in Marinas Erinnerung das blühende Leben gewesen war: Lucy, nicht aufzuhalten, unermüdlich, warmherzig; Lucy, die am Finch College gleich zweimal Präsidentin des Jahrgangs 1970 und dann eine engagierte Ehemalige gewesen war: Lucy, die von allen Mädchen bewundert, wenn nicht gar vergöttert wurde; Lucy, die immer so nett zu der schüchternen, stotternden und schielenden Marina Dyer gewesen war.