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Obwohl sie beide all die Jahre über in Manhattan gewohnt hatten, Marina in der 76. Straße West, unweit vom Central Park, war es fünf Jahre her, seit sie Lucy gesehen hatte, auf dem zwanzigjährigen Klassentreffen; und dass sie sich das letzte Mal ausführlich und ernsthaft unterhalten hatten, das war noch länger her. Oder vielleicht hatten sie das ja überhaupt nie getan.

Es war der Sohn, dachte Marina beim Falten der Zeitung. Der Gedanke war nicht ganz ernst gemeint, aber er entsprach ihrer beruflich bedingten Skepsis.

Popelmann! Is’ ja oberaffentittengeil!

Wo kam er her? Aus dem heißen, flüssigen Kern des Universums. Im Augenblick des Urknalls. Vor dem nichts war, und nach dem alles war: kosmisches Sperma. Alle empfindungsfähigen Wesen stammten aus ein und derselben Quelle, und diese war ausgestorben, längst nicht mehr da.

Je mehr man über Ursprünge nachdenkt, desto weniger ist einem klar. Er hatte Wittgenstein gelesen — Wovon man nicht sprechen kann, davon muss man schweigen. (Ein fotokopierter Handzettel für das Seminar über Kommunikative Kunst, dessen Leiter ein cooler junger Typ mit einem Doktor aus Princeton war.) Trotzdem glaubte er sich an die Umstände seiner Geburt zu erinnern: 1978, die letzte Dezemberwoche, seine Eltern hatten Urlaub auf Barbados gemacht. Er war um fünf Wochen zu früh dran gewesen und konnte von Glück sagen, diesen «Unfall «auf Barbados überlebt zu haben, und dennoch sah er in seinen Träumen ein kobaltblaues Meer, Reihen von Palmen, deren Borke sich schälte wie Schorf; tropische Vögel in knallbuntem Gefieder; schwer hing ein dicker, weißer Mond am Himmel — wie Mutters großer Bauch; Haifischflossen durchschnitten die Wellen wie in dem Death-Raiders-Videospiel, nach dem er im ersten High-School-Jahr süchtig geworden war. Von Hurrikans durchtobte Nächte brachten ihn um den Schlaf.

Stimmenlärm wie von ertrinkenden Seelen brach sich krachend am Strand.

Er stand auf Metallica, Urge Overkill, Soul Asylum.

Seine Helden waren die Heavy-Metal-Punks, die es nie in die Top Ten gebracht hatten, und wenn doch, waren sie schnell wieder verschwunden. Er bewunderte Loser, die sich mit einem Goldenen Schuss wegpusteten, als wäre das Leben ein Scherz — ein letztes» Ihr könnt mich mal!« an die Welt. Aber er war unschuldig, um Himmels willen; nichts von alledem, was man ihm da vorwarf, hatte er seiner Mutter getan! Es war einfach zu abgefahren, verfluchte Kacke noch maclass="underline" Man hatte ihn, Derek Peck junior, verhaftet und würde ihm den Prozess machen für ein Verbrechen an seiner eigenen Mutter! Er hatte sie doch geliebt! Ein Verbrechen, das Tiere begangen hatten (deren Hautfarbe er sich schon denken konnte), die auch ihm den Schädel eingeschlagen hätten — wie man ein Ei aufklopft –

, wäre er fünf Stunden früher zur Tür hereingekommen.

Sie hatte nicht die Absicht, sich zu verlieben, schon gar nicht in einen Mandanten, dazu war sie nicht der Typ, und trotzdem, Folgendes war passiert: ein Blick auf ihn, in seine merkwürdigen lohfarbenen Augen, die flehend zu ihr aufblickten: Hilf mir! Rette mich! Schon war es geschehen.

Derek Peck junior war ein Botticelli-Engel, teilweise verwischt und von Eric Fischl plump übermalt. Sein volles, mit Festiger versteiftes ungewaschenes Haar wellte sich in zwei symmetrischen Flügeln zu einem Rahmen für das elegante, knochige Gesicht mit dem spitzen Kinn.

Seine Gliedmaßen waren lang wie die eines Affen und zuckten nervös. Seine Schultern waren schmal und hoch, seine Brust merklich konkav. Er hätte genauso gut vierzehn sein können wie fünfundzwanzig. Er stammte aus einer Generation, die für Marina Dyer wie eine andere Spezies war. Unter dem Armani-Sakko, das die Farbe von Metallspänen hatte, trug er ein T-Shirt mit» Soul Asylum« vorne drauf, die Schurwollhose — Nadelstreifen, von Ralph Lauren — hatte Flecken am Hosenstall; die Füße steckten in Nikes, Größe zwölf. Zornige blaue Venen pochten in seinen Schläfen. Er sei eine geschniegelte kleine Koksnase, die aus irgendeinem Grund noch nie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen war, hatte der Anwalt Derek Peck seniors Marina wissen lassen, der es ihr, auf ihr diskretes Drängen hin, ermöglicht hatte, sich dem Jungen als Verteidigerin anzudienen. Vermutlich ein psychopathischer Muttermörder, der nicht nur völlig unschuldig zu sein behauptete, sondern auch noch selbst daran glaubte. Er verströmte den komplexen Geruch von ungewaschener Haut und Chemie. Erstere schien erhitzt; sie hatte Farbe und Textur von gedünstetem Hafermehl.

Seine Nasenlöcher waren rot gerändert wie ein beginnender Brand und seine Augen von einem hellen Gelbgrün, wie entflammbares Acetylen. Man tat gut daran, an diese Augen kein Streichholz zu halten, besser daran, keinen allzu tiefen Blick in sie zu tun.

Als Derek Peck Marina Dyer den Jungen vorstellte, starrte er sie hungrig an. Trotzdem stand er nicht auf wie die anderen Männer im Raum. Er beugte sich sitzend vor, so dass die Sehnen in seinem Hals herausstanden, und dass er sich anstrengte zu sehen, zu denken, das sah man auf seinem jungen Gesicht. Sein Handschlag war zunächst ungeschickt, dann mit einem Mal kräftig und sicher wie der eines Mannes; er tat ihr weh. Ohne zu lächeln schüttelte der Junge sich das Haar aus den Augen, wie ein Pferd, das den schönen Kopf zurückwarf, und ein Schmerz durchfuhr Marina Dyer wie ein elektrischer Schlag. Schon lange hatte sie dergleichen nicht mehr gespürt.

Mit ihrer leisen Altstimme, die nichts preisgab, sagte sie:

«Hallo, Derek.« Mitte der achtziger Jahre, einer Ära voller Skandalprozesse mit viel Prominenz, hatte Marina Dyer sich einen Namen als» brillante «Strafverteidigerin gemacht, und das sowohl durch Brillanz als auch harte Arbeit und dadurch, nicht dem Typ zu entsprechen, den man in ihr sah. Eine kühne Bühnendramatik lag in der Art, wie sie in einem von Männern dominierten Gerichtssaal auftrat. Zunächst schon mal der verblüffende Umstand ihrer Größe: Sie war eine kleine, zierliche Frau, zurückhaltend, scheinbar schüchtern, eine Frau, die leicht zu übersehen war, obwohl es nicht eben ein Vorteil war, sie zu übersehen. Sie war tadellos gepflegt, aber dezent, was ihr den Anschein einer erhabenen Gleichgültigkeit gegenüber der Mode, einen Hauch von Zeitlosigkeit gab.

Das sperlingsfarbene Haar trug sie hochgesteckt, wie eine Ballerina; am liebsten waren ihr Chanel-Kostüme aus weicher Kaschmirwolle in gedeckten Erntefarben, Jacketts, die ihrem schmalen Körper etwas Volumen verliehen, die Röcke stets tugendhaft bis auf der Mitte der Waden. Schuhe, Handtaschen, Aktenköfferchen waren aus exquisitem italienischem Leder, teuer, aber unauffällig.

Wenn etwas davon Abnutzungserscheinungen zu zeigen begann, ersetzte Marina es mit einem identischen Stück aus demselben Geschäft in der Madison Avenue. Das etwas schief stehende linke Auge, das so mancher durchaus charmant gefunden hatte, war längst chirurgisch korrigiert. Ihr Blick war jetzt direkt und äußerst konzentriert. Ihre Augen waren dunkelbraun, glänzend, immer leicht feucht, und zuweilen war darin ein gewisser Fanatismus zu sehen, wenn auch ausschließlich professioneller Natur, ein Fanatismus im Dienste ihrer Mandanten, für die sie mit legendärem Eifer eintrat.

Kleine Frau, die sie war, gewann Marina in öffentlichen Arenen an Größe und Autorität. In einem Gerichtssaal bekam ihre normalerweise dünne, unauffällige Stimme Volumen und Timbre. Ihre Leidenschaft schien proportional zu der Aufgabe zu wachsen, einen Mandanten einer vernünftigen Jury als» nicht schuldig «zu präsentieren, und es kam vor (die bewundernden Kollegen hatten ihre Witze dafür), dass ihr schmuckloses, asketisches Gesicht in ihrer Ekstase das Leuchten von Berninis St. Teresa annahm. Ihre Mandanten waren Märtyrer, ihre Ankläger Inquisitoren. Marina Dyers Fälle hatten eine spirituelle Intensität, die Geschworene hinterher nicht zu erklären vermochten, wenn man ihr Urteil in Zweifel zog. Sie hätten dabei sein, sie hören müssen, um das zu verstehen.