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Marinas erster Fall mit großer Presse war die erfolgreiche Verteidigung eines Bundeskongressabgeordneten aus Manhattan gewesen, dem man schwere Erpressung und Zeugenbeeinflussung vorwarf; ihr zweiter war die erfolgreiche, wenn auch umstrittene Verteidigung eines schwarzen Performancekünstlers, den man der Vergewaltigung und Körperverletzung an einer drogensüchtigen Anhängerin bezichtigte, die ungeladen in seiner Suite im Four Seasons aufgetaucht war. Dann war da ein ebenso prominenter wie fotogener Börsenmakler aus der Wall Street, der der Veruntreuung, des Betrugs und der Verdunkelung angeklagt war; dann die Journalistin, der man einen Mordversuch zur Last legte, nachdem sie ihren verheirateten Liebhaber angeschossen hatte; daneben hatte es weniger bekannte, aber dennoch verdienstvolle Fälle gegeben, von denen jeder für sich eine Herausforderung gewesen war. Marinas Mandanten wurden zwar nicht durch die Bank freigesprochen, aber ihre Strafen galten – wenn man bedenkt, dass sie wahrscheinlich schuldig waren — als relativ mild. Zuweilen landeten sie noch nicht mal im Gefängnis, sondern in einem Reha-Zentrum; sie bezahlten Bußgelder, taten sozialen Dienst. So sehr Marina Dyer Publicity scheute, sie profitierte davon – nach jedem Sieg stieg ihr Honorar. Dennoch war sie weder habgierig, noch schien sie von Ehrgeiz geplagt. Ihr Leben war ihre Arbeit und ihre Arbeit ihr Leben. Natürlich hatte sie einige Niederlagen einstecken müssen, am Anfang ihrer Laufbahn, als sie zuweilen, gegen eine geringe Gebühr, unschuldige oder praktisch schuldlose Leute verteidigt hatte. Bei Unschuldigen riskiert man Emotionen, Zusammenbrüche, Stottern im Zeugenstand.

Man riskiert Zorn und Verzweiflung. Bei guten Lügnern wusste man, auf ihre Vorstellung ist Verlass.

Psychopathen sind am Besten: Sie lügen wie gedruckt, aber glauben daran.

Marinas Sondierungsgespräch mit Derek Peck junior dauerte mehrere Stunden: Es war eine Strapaze und intensiv. Wenn sie ihn nahm, wäre dies ihr erster Mordprozess; dieser siebzehnjährige Junge ihr erster des Mordes bezichtigter Mandant. Nie hatte sie, in einem derart intimen Raum, mit einem Mandanten wie Derek Peck gesprochen. Nie hatte sie lange stille Momente in Augen wie die seinen gesehen. Die Vehemenz, mit der er seine Unschuld beteuerte, war überzeugend. Der Zorn, dass jemand an seiner Unschuld zweifeln könnte, zog einen in seinen Bann. Hatte dieser Junge getötet? Auf diese Art und Weise das Gesetz»übertreten«, das Gesetz, das praktisch Marina Dyers Leben war, hatte er dagegen verstoßen, als hätte das nicht mehr Konsequenzen, als wenn einer eine Papiertüte zerknüllte und auf die Straße warf? Lucille Pecks Schädel war buchstäblich zerschmettert — schätzungsweise zwanzig Hiebe mit dem Golfschläger, wenn nicht mehr. Ihr nackter, weicher, schlaffer Körper unter dem Bademantel war mit Fäusten traktiert worden, zerschunden, voller Blut; ihre Genitalien wütend zerfleischt. Ein unsägliches Verbrechen, ein Verbrechen wider jedes Tabu. Ein Verbrechen für die Sumpfblätter, ein Kitzel selbst noch aus zweiter und dritter Hand.

In ihrem neuen pflaumenblauen Kostüm von Chanel, die Wolle so dunkel, dass es einem schwarz wie ein Nonnenhabit vorkam, mit ihrem Chignon, der ihrem Profil etwas Scharfes gab, etwas von einem Wolf oder einem Avedon-Porträt, blickte Marina Dyer auf den Jungen, der Lucy Siddons’ Sohn war, hinab. Er erregte sie mehr, als sie sich eingestehen wollte. Ich bin unangreifbar, dachte sie, keiner kommt an mich ran. Es war die perfekte Rache.

Lucy Siddons. Meine beste Freundin; wie gern hatte ich sie gehabt. Ich hatte ihr eine Geburtstagskarte und ein rotes Seidenkopftuch ins Schließfach getan, und es hatte Tage gedauert, bevor ihr einfiel, sich zu bedanken, obwohl es ein herzliches Dankeschön mit einem aufrichtigen Lächeln gewesen war. Lucy Siddons, die so beliebt gewesen war, so zwanglos unter den versnobten Mädchen am Finch, die alle so sein wollten wie sie. Trotz der unreinen Haut, der vorstehenden Zähne, der massiven Schenkel und dem Watschelgang einer Ente, mit dem man sie, ganz freundschaftlich, aufzog. Das Geheimnis bestand darin, dass Lucy Persönlichkeit hatte. Jene mysteriöse Unbekannte, die man sich nicht einfach zulegen kann, wenn sie einem abgeht. In dem Augenblick, in dem man über sie nachdenken muss, erreicht man sie nie. Und Lucy war gut, warmherzig. Eine praktizierende Christin aus einer wohlhabenden Manhattaner Episkopalen-Familie, die berühmt für ihre Wohltätigkeit war. Sie hatte Marina Dyer in der Caféteria Zeichen gemacht, sich zu ihr und ihren Freundinnen zu setzen, während Letzteren das Lächeln gefror; in der Turnstunde hatte sie die kleine Marina Dyer unter dem Stöhnen der anderen in ihr Basketballteam geholt. Aber Lucy war gut, so gut. Wie Kleingeld verteilte sie Barmherzigkeit und Mitleid an die Ausgestoßenen unter den Mädchen am Finch.

Habe ich Lucy Siddons während dieser drei Jahre meines Lebens geliebt? Ja, ich habe Lucy Siddons geliebt wie seither niemanden mehr. Aber es war eine reine, keusche Liebe. Zumal sie ganz und gar einseitig war.

Seine Kaution betrug 350000 Dollar; sein besorgter Vater hatte bezahlt. Seit dem überwältigenden Wahlsieg der Republikaner hatte es den Anschein, als würde im Staat New York die Todesstrafe wieder eingeführt, aber gegenwärtig gab es keine Anklage auf vorsätzlichen Mord; selbst die brutalsten Verbrechen, geplant oder nicht, liefen lediglich auf Totschlag hinaus. Wie der Mord an Lucille Peck, um den Lokalzeitungen, Magazine, Fernsehen und Radio bedauerlicherweise einen solchen Wirbel machten, dass Marina Dyer sich langsam fragte, ob ihrem Mandanten in New York überhaupt ein fairer Prozess gemacht werden konnte. Derek war verletzt, fassungslos:»Hören Sie, wieso sollte ich sie umbringen wollen, ich habe sie doch geliebt!«, winselte er mit Kinderstimme und steckte sich dabei eine weitere Zigarette aus einem zerdrückten Päckchen Camel an.» Ich war der Einzige auf der ganzen gottbeschissenen Welt, der sie geliebt bat! «Jedes Mal, wenn Derek sich mit Marina traf, kam es zu dieser Erklärung oder einer Variante davon. Seine Augen blitzten vor Tränen der Empörung und moralischer Entrüstung. Fremde waren in sein Haus eingedrungen und hatten seine Mutter umgebracht, und ihm warf man es vor! War das zu fassen? Sein Leben und das seines Vaters in der Luft zerrissen, verwüstet, als hätte darin ein Tornado getobt! Derek weinte vor Zorn und öffnete sich Marina, als hätte er sich das Brustbein aufgerissen und ihr das Schlagen seines tobenden Herzens gezeigt.

Es waren schrecklich ergreifende Augenblicke, nach denen Marina noch stundenlang fertig war.

Marina fiel jedoch auf, dass Derek Lucille Peck nie «meine Mutter «oder» Mutter «nannte, sondern immer nur «sie«. Als sie ihm gegenüber zufällig erwähnte, dass sie Lucille vor Jahren auf der Schule gekannt hatte, schien der Junge das nicht zu hören. Er hatte die Stirn gerunzelt und kratzte sich am Hals. Marina hakte sacht nach:»Lucille war eine herausragende Persönlichkeit am Finch College.

Eine liebe Freundin. «Aber noch immer schien es, als hörte Derek sie nicht.

Lucy Siddoris’ Sohn, der praktisch nicht die geringste Ähnlichkeit mit ihr hatte. Die funkelnden Augen, das kantige Gesicht, der harte, wie gemeißelte Mund. Sie konnte seine Sexualität geradezu riechen wie ungewaschenes Haar, schmuddlige T-Shirts und Jeans.

Und soweit Marina sehen konnte, ging ihm auch jede Ähnlichkeit mit Derek Peck senior ab.

Im 1970er Jahrbuch des Finch College gab es zahlreiche Fotos von Lucy Siddons und den anderen populären Mädchen des Jahrgangs, die Liste der Aktivitäten unter ihren lächelnden Gesichtern beeindruckend lang; die Legende unter Marina Dyers einzigem Foto war kurz.

Natürlich hatte sie auf der Bestenliste gestanden, aber beliebt war sie trotz aller Anstrengungen nie gewesen. Ich warte den rechten Augenblick ab, hatte sie sich getröstet.