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Ich kann warten.

Und so war es denn ganz wie in den Märchen gekommen, in denen es um Belohnung und Strafe ging.

Rasch und ausdruckslos sagte Derek Peck seine Geschichte auf, sein Alibi, wie er es den Behörden schon unzählige Male gesagt hatte. Seine Stimme hörte sich an wie die eines Computers. Genaue Uhrzeiten, Adressen, die Namen von Freunden, die» jeden Eid darauf schwören werden, dass ich jeden Augenblick bei ihnen war«; die genaue Route, die sein Taxi genommen hatte, durch den Central Park, auf seinem Rückweg in die East End Avenue; sein Entsetzen, als er am Fuße der Treppe in der Halle» die Leiche «sah. Fasziniert hörte Marina zu. Sie wollte nicht glauben, dass es sich um eine im Kokainrausch erfundene Geschichte handelte, die unauslöschlich in das Reptilienhirn des Jungen eingebrannt war. Unerschütterlich. Sie wollte nur nicht so recht zu einigen peinlichen Details aus dem Ermittlungsbericht der Polizei passen: Dereks mit Lucille Pecks Blut gesprenkelte Socken, die man in einem Wäscheschacht fand; Dereks zusammengeknüllte Unterwäsche auf dem Boden des Bads, noch feucht von einer Dusche, die er um sieben Uhr morgens genommen haben wollte, während sieben Uhr abends wohl glaubwürdiger war — bevor er sich Gel in die Haare geschmiert und sich auf Edelpunk getrimmt hatte, um mit einigen seiner Heavy-Metal-Kumpane um die Häuser zu ziehen. Und die Schmierer von Lucy Pecks Blut auf den Fliesen von Dereks Dusche, die er gar nicht bemerkt und somit auch nicht abgewischt hatte. Und dann die Nachricht auf Lucilles Anrufbeantworter, in der er sagte, dass er zum Abendessen nicht zu Hause sein würde, die seiner Behauptung nach von zirka vier Uhr nachmittags stammte, aber möglicherweise erst um zehn Uhr abends aus einem Club in Soho gekommen war.

Diese und andere Widersprüche machten ihm weniger Sorgen, als dass sie ihn aufbrachten, als handelte es sich dabei um Lücken in einer Erklärung des Universums, für die er doch wohl kaum verantwortlich zu machen war. Er war der kindlichen Überzeugung, dass sich dabei alles seinen Wünschen zu fügen hätte, wenn er nur darauf bestand. Wenn er es wirklich glaubte — wie konnte es dann nicht so sein? Natürlich, so Marina Dyers Erklärung, bestand die Möglichkeit, dass der tatsächliche Mörder Lucille Pecks Dereks Socken bewusst mit Blut beschmiert und dann in den Wäscheschacht geworfen hatte, um ihn zu belasten; dass der oder die Mörder sich die Zeit genommen hatten, in Dereks Dusche zu duschen, und Dereks feuchte, zusammengeknüllte Unterwäsche hatten liegen lassen. Und dann gab es keinen absoluten und unerschütterlichen Beweis dafür, dass der Anrufbeantworter Anrufe immer genau in der präzisen chronologischen Reihenfolge ihres Eingangs aufzeichnete, nicht hundertprozentig — wie wollte man das beweisen?

(Es waren an ihrem Todestag fünf Anrufe auf Lucilles Band, über den Tag verteilt, Dereks zuletzt.) Der Staatsanwalt, der in seinem Fall die Anklage vertrat, behauptete, Derek Pecks Motiv für den Mord an seiner Mutter liege wohl auf der Hand: Geld. Sein Taschengeld von monatlich 500 Dollar hatte für seine Ausgaben offensichtlich schlicht nicht genügt. Mrs. Peck hatte ihrem Sohn im Januar die Kreditkarte sperren lassen, nachdem eine Rechnung von über 6000 Dollar zusammengekommen war; Verwandte berichteten von «Spannungen «zwischen Mutter und Sohn; einige von Dereks Klassenkameraden sprachen von Gerüchten über Schulden bei Dealern und Dereks Angst, dafür ermordet zu werden. Und dann hatte sich Derek zu seinem achtzehnten Geburtstag, wie er seinen Freunden erzählt hatte, einen Jeep Wrangler gewünscht. Wenn er seine Mutter tötete, dann konnte er damit rechnen, so um die vier Millionen Dollar zu erben, und dann waren da noch eine Lebensversicherung über 100000 Dollar, bei der er der Begünstigte war, ein hübsches vierstöckiges Reihenhaus im East End mit einem Wert von gut zweieinhalb Millionen, ein Anwesen in East Hampton sowie wertvoller Sachbesitz.

In den fünf Tagen zwischen Lucille Pecks Tod und seiner Verhaftung hatte Derek über zweitausend Dollar Schulden gemacht — er hatte sich in einen manischen Kaufwahn gestürzt, den er nachträglich seinem Kummer zuschrieb. Auch war Derek alles andere als der Musterschüler, als der er sich ausgab: Die Mayhew Academy hatte ihn im Januar für zwei Wochen ausgeschlossen, wegen» ständiger Störungen«, und es war kein Geheimnis, dass er und ein anderer Junge in der neunten Klasse bei einer Reihe von Intelligenztests betrogen hatten. Im Augenblick versagte er in sämtlichen Fächern außer einem Seminar in postmoderner Ästhetik, in dem man, unter der Leitung einer in Princeton ausgebildeten Lehrkraft, akribisch Filme und Comics – Superman, Batman, Dracula und Star-Trek — zerlegte. Es gab einen Mathe-Club, deren Sitzungen Derek sporadisch beiwohnte, aber nicht so an dem Abend, an dem seine Mutter ums Leben gekommen war.

Wieso sollten seine Klassenkameraden lügen, was ihn anging? — Derek war betroffen, gekränkt. Sein bester Freund, Andy, wandte sich gegen ihn!

Marina musste die Reaktion ihres jungen Mandanten auf den belastenden Bericht der Polizei bewundern: Er stritt durch die Bank alles ab. Seine lodernden Augen füllten sich mit heißen Tränen der Unschuld, der Fassungslosigkeit. Die Anklagevertretung war der Feind, und der Fall des Feindes war lediglich fingiert, um ihm einen ungelösten Mord in die Schuhe zu schieben, weil er ein Kind und damit verletzlich war. Na schön, er stand auf Heavy Metal, auch mit diversen Drogen hatte er experimentiert — wer nicht, Herrgott noch mal? Er hatte seine Mutter nicht umgebracht, und er wusste auch nicht, wer es war!

Marina versuchte Distanz zu wahren, objektiv zu bleiben. Sie war sich sicher, niemand, Derek eingeschlossen, kannte ihre Gefühle in Bezug auf ihn. Ihr Verhalten war einwandfrei, professionell, und daran würde sich auch nichts ändern. Trotzdem dachte sie, geradezu mit Besessenheit, ständig an ihn; er war zum Mittelpunkt ihrer Gefühlswelt geworden, als ginge sie irgendwie schwanger mit ihm, seinem gepeinigten, zornigen Geist.

Hilf mir! Rette mich! Vergessen waren die raffinierten Umwege, mit denen sie Derek Peck seniors Anwalt ihren Namen zur Kenntnis gebracht hatte; mittlerweile glaubte sie, Peck junior hätte sie von sich aus gewählt.

Höchstwahrscheinlich hatte Lucille ihm von ihr erzählt: von ihrer alten Klassenkameradin und engen Freundin Marina Dyer, die mittlerweile eine prominente Strafverteidigerin war. Und vielleicht hatte er ja irgendwo ihr Foto gesehen. Es musste einfach mehr als nur ein Zufall sein. Sie wusste es!

Sie reichte ihre Anträge ein; sie befragte Lucille Pecks Verwandtschaft, Nachbarn, Freunde; mit Hilfe zweier Assistenten begann sie einen voluminösen Fall aufzubauen; sie schwelgte in der Aufregung im Vorfeld des Prozesses, durch den sie ihren in Bedrängnis geratenen Mandanten führen würde wie eine Kriegerin, wie Johanna von Orleans. Man würde sie in der Presse zerfleischen; Märtyrer würden sie sein. Und dennoch, das stand für sie fest, würden sie triumphieren.

War Derek schuldig? Und wessen, falls dem so war?

Wenn er sich wirklich nicht an seine Tat erinnerte, war er dann schuldig? Marina dachte: Wenn ich ihn in den Zeugenstand rufe, wenn er sich dem Gericht so präsentiert wie mir … wie sollte die Jury sich gegen ihn wehren?

Es waren seit Lucille Pecks Tod fünf Wochen vergangen, dann sechs, mittlerweile waren es zehn, und schon ging das Interesse daran, wie an jedem anderen Todesfall auch, rapide zurück. Man hatte den Prozessbeginn auf den Spätsommer gelegt, und so stand er am Horizont, aufreizend, verlockend wie die Premiere eines Stückes, das man eben noch probt. Marina hatte natürlich im Namen ihres Mandanten auf nicht schuldig plädiert; der hatte sich geweigert, eine andere Möglichkeit auch nur in Betracht zu ziehen. Schließlich war er unschuldig, wie sollte er sich da einer geringeren Straftat – Totschlag, egal welchen Grades — für schuldig erklären?