In Manhattaner Juristenkreisen war man der Ansicht, Marina Dyer begehe einen ungeheuren Fehler, mit diesem Fall vor Gericht zu gehen, aber sie weigerte sich, eine Alternative auch nur zu diskutieren; sie war da nicht weniger eisern als ihr Mandant; auf Verhandlungen ließ sie sich gar nicht erst ein. Der Kern ihrer Verteidigung wäre eine systematische Widerlegung des Falles, den die Staatsanwaltschaft aufgebaut hatte, eine Entkräftung sämtlicher so genannter Beweise, der Reihe nach; leidenschaftliche Beteuerungen von Derek Pecks absoluter Unschuld, im Zeugenstand würde Derek zum Star; der Vorwurf polizeilicher Fehler und Inkompetenz, was die Ermittlung des oder der tatsächlichen Täter anging, die bereits in andere Häuser an der East Side eingebrochen waren; die Hoffnung, die Sympathie der Geschworenen zu gewinnen. Schließlich hatte Marina schon vor langer Zeit gelernt, was für ein tiefer, tiefer Brunnen die Sympathie einer Jury war. Man wollte ja nicht gleich so weit gehen, sie amerikanische Durchschnittstrottel zu nennen, aber sie waren auf merkwürdige, ja fast magische Weise beeinflussbar, zuweilen auf geradezu kindliche Art. Es waren» gute Leutchen«— anständig, großzügig, nachsichtig, freundlich, nicht missbilligend oder gar grausam. Sie suchten immer nach Gründen, jemanden freisprechen zu können, ganz besonders in Manhattan, wo der Ruf der Polizei angekratzt war, und ein guter Strafverteidiger lieferte ihnen die. Und einen jungen, attraktiven und jetzt mutterlosen Jungen wie Derek Peck junior des Totschlags schuldig zu sprechen, das wollten sie nun mit Sicherheit nicht.
Geschworene sind leicht zu verwirren, und Marina Dyers großes Talent bestand darin, dies zum Vorteil ihrer Mandanten zu tun. Eine der großen Schwächen des Menschen ist es, gut sein zu wollen, auch wenn es der Gerechtigkeit zuwiderläuft.
«Hey, Sie glauben mir nicht, was?« Eine brennende Zigarette zwischen den Fingern, hielt er inne in seinem zwanghaften Auf und Ab in ihrem Büro.
Argwöhnisch sah er sie an.
Marina blickte auf, erschrocken, Derek mit seinem scharfen Zitrusgeruch so nahe neben ihrem Schreibtisch stehen zu sehen. Sie hatte sich Notizen gemacht, obwohl ein Recorder mitlief.»Derek, was ich glaube, spielt keine Rolle. Ich spreche für dich als dein Anwalt. Deine bestmögliche — « Gereizt sagte er:»Nein! Sie müssen mir glauben — ich hab sie nicht umgebracht! « Es war ein peinlicher Augenblick, ein Augenblick äußerster Spannung, der zahlreiche Möglichkeiten barg.
Marina Dyer und der Sohn einer alten, mittlerweile verstorbenen Freundin, Lucy Siddons, an einem gewittrigen Spätnachmittag allein in ihrem Büro; nur das laufende Tonbandgerät war als Zeuge dabei. Marina hatte Grund zur Annahme, dass der Junge trank — diese langen Tage vor dem Prozess. Er lebte, zusammen mit seinem Vater, in dem Haus im East End gegen Kaution auf freiem Fuß, aber nicht» frei«. Er hatte sie großzügig wissen lassen, dass er — absolut! — drogenfrei sei. Er folgte ihren Anweisungen, ihrem Rat. Aber glaubte sie ihm?
Marina sagte, wiederum mit Bedacht, und hielt dem funkelnden Blick des Jungen dabei stand:»Natürlich glaube ich dir, Derek«, als sei es die natürlichste Sache der Welt und er naiv, daran zu zweifeln.»Jetzt setz dich bitte, damit wir weitermachen können. Du hast eben von der Scheidung deiner Eltern erzählt …« «Wenn Sie mir nämlich nicht glauben«, sagte Derek und schob die Unterlippe vor, bis sie die rote Fleischigkeit einer geschälten Tomate annahm,»such ich mir einen Anwalt, der mir verflucht noch mal glaubt! « «Ich glaube dir ja. Und jetzt setz dich bitte.« «Sie glauben mir? Sie glauben mir …?« «Derek, was habe ich denn gerade gesagt! Und jetzt setz dich.« Der Junge ragte über ihr auf, starrte sie an. Einen Augenblick lang war ihm seine Angst anzusehen. Dann tastete er sich zurück zu seinem Stuhl. Sein junges, angegriffenes Gesicht war tiefrot, als er sie anstarrte, die Augen lohfarben und grün, voll Bewunderung, voll Verlangen.
Fass mich nicht an! murmelte Marina, auf einer Woge von Gefühlen schwimmend, im Schlaf. Ich könnte es nicht ertragen.
Marina Dyer. Fremde starrten sie in der Öffentlichkeit an.
Steckten die Köpfe zusammen, wiesen auf sie. Ihr Name – und jetzt auch ihr Gesicht, mit dem Segen der Medien war sie zur Ikone geworden. In Restaurants, in Hotelhallen, bei Anwaltstreffen. Im New Yorker Ballett zum Beispiel, das sie mit einem Freund besuchte, da es eine Aufführung jenes Ensembles gewesen war, für das Lucille Peck am Abend ihres Todes Karten gehabt hatte. Ist das die Anwältin? Die, die …? Des jungen, der seine Mutter mit dem Golfschläger erschlagen hat? Peck?
Sie wurden beide berühmt.
Sein Spitzname, sein Name in den Downtown-Clubs – im Fez, im Duke’s, im Mandible — war» Popel«. Was ihm erst gestunken hatte, bis er entschied, dass er eher liebevoll als höhnisch gemeint war. Ein hübscher weißer Junge aus Uptown, der musste sich nun mal rannehmen lassen. Musste sich Respekt kaufen, Autorität. Es war ein schwieriges Publikum, und das zu beeindrucken, das kostete was — Geld sicher, aber es war nicht alles. Es gehörte eine gewisse Haltung dazu. Hey, Popel, Mann, bist ja echt ’n abgefahrener Typ! Aber jetzt waren sie wirklich beeindruckt. Er hat seinen Hausdrachen platt gemacht? Wahnsinn! Dieser Popel, Mann, ein echt abgefahrener Typ!
Er träumte noch nicht mal davon. Auch nicht von Mutter, die einfach weg war, als wäre sie verreist. Nur, dass sie nicht anrief, um zu sehen, wie’s ihm ging. Er konnte sie nicht mehr enttäuschen, damit war Schluss.
Überhaupt träumte er nie von Gewalt, das war nicht sein Ding. Er glaubte an den Passivismus. Es gab da diesen großen indischen Führer, einen Heiligen namens Gandhi.
Der lehrte das, ethisch und so, Passivismus, und hatte damit über das rassistische britische Imperium triumphiert.
Der Film war freilich zu lang.
Er schlief nicht mehr nachts, sondern zu den merkwürdigsten Zeiten am Tag. Nachts guckte er fern, spielte am Computer» Myst«, sein Lieblingsspiel, in das er sich stundenlang vertiefen konnte. Gewalttätige Spiele mied er, sein Magen spielte da noch nicht mit.
Außerdem mied er die Differenzialrechnung, sogar den Gedanken daran — diese Verräter! Er hatte den Abschluss nicht gemacht, der Jahrgang ’95 machte ohne ihn weiter – die Arschlöcher. Seine Freunde waren nie da, wenn er anrief. Selbst Mädchen, die verrückt nach ihm gewesen waren, keines war da. Keines rief ihn zurück. Ihn, Derek Peck! Den Popelmann! Es war, als hätte man ihm einen Mikrochip eingepflanzt, ins Gehirn, so dass es zu pathologischen Reaktionen kam, wie zum Beispiel zwei Tage nicht schlafen zu können. Um dann einfach zusammenzuklappen, wie tot. Viele Stunden später wachte er wieder auf, das Herz am Hämmern, mit trockenem Mund, quer auf seinem zerwühlten Bett, den Kopf über der Kante; die Doc Martens, seine Kampfstiefel, an den Füßen, trat er hinter sich, als halte ihn jemand an den Knöcheln gepackt, dabei hielt er, mit beiden Händen, eine unsichtbare Stange? Eine Baseballkeule? Einen Schläger?
Und dann schlug er damit im Schlaf zu, und seine Muskeln zuckten dabei, bis er Krämpfe bekam, und die Venen schwollen, bis es ihm schier den Kopf zerriss.
Schlug und schlug und schlug … bis es ihm in der Hose, in seinem Slip von Calvin Klein kam.
Wenn er ausging, trug er eine dunkle, eine sehr dunkle Brille, selbst in der Nacht. Sein langes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, die METS-Kappe umgedreht auf dem Kopf. Für den Prozess würde er sich die Haare schneiden lassen, aber fürs Erste noch nicht, das wäre ja, als gäbe er auf, als kapitulierte er, oder nicht? In der Pizzeria an der Ecke, einem Restaurant an der Second Avenue, in das er rasch mal alleine ging, gab er Autogramme auf Servietten — einigen kichernden Mädchen, einmal einem Vater und seinem vielleicht achtjährigen Sohn, wieder ein andermal zwei alten Frauen um die vierzig oder fünfzig, die ihn anstarrten, als wäre er der Son of Sam. Klar doch, okay! Er unterschrieb mit «Derek Peck jr. «und setzte das Datum darunter. Seine Unterschrift: ein extravagantes Gekrakel in roter Tinte.