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Und selbst danach trank sie immer mehr und laberte irres Zeug, wie dass er ihr Baby sei, sie spüre ihn in ihrem Bauch treten, erschauern, unter dem Herzen, sie hatte mit ihm gesprochen, monatelang, in ihrem Bauch, bevor er geboren war, sie legte sich dazu aufs Bett und streichelte ihn, seinen Kopf, durch ihre Haut, und sie unterhielten sich miteinander, sagte sie, noch nie sei sie einem anderen Wesen so nahe gewesen, und ihm war das peinlich, er wusste nicht, was er sagen sollte, außer, dass er sich nicht mehr daran erinnerte, war schließlich schon lange her, und sie sagte darauf, nein, nein, und ob du dich erinnerst, in deinem Herzen, in deinem Herzen bist du immer noch mein Baby, du erinnerst dich schon, worauf er sauer wurde und sagte: Hör auf zu spinnen, so ein Quatsch, ich erinnere mich nicht! Es gab nur eine Möglichkeit, damit sie aufhörte, ihn zu lieben, das wurde ihm langsam klar, aber er hatte es nicht gewollt, er hatte gebeten, in eine Schule in Boston oder Gott weiß wo gehen, bei seinem Papa wohnen zu dürfen, aber da drehte sie durch, nein, nein, nein, kam nicht in Frage, dass er wegging, nie würde sie das erlauben, sie versuchte ihn festzuhalten, in die Arme zu ziehen und zu küssen, so dass er sich einsperren und praktisch die Tür verbarrikadieren musste, und sie hatte auf ihn gewartet, halbnackt, so getan, als käme sie aus dem Bad, als hätte sie gerade geduscht, und drückte ihn an sich, und an jenem Abend, da musste er einfach durchgedreht sein, irgendwas in seinem Kopf war geknackst, und er hatte nach dem Zweier-Eisen gegriffen, sie hatte noch nicht mal Zeit gehabt zu schreien, so schnell war es gegangen, so gnädig, er war hinterrücks auf sie zugerannt, sie hat ihn noch nicht mal richtig gesehen …»Es war die einzige Möglichkeit, endlich Schluss zu machen mit ihrer Liebe zu mir.« Marina starrte dem Jungen in das schmerzverzerrte, tränenüberströmte Gesicht. Schleim lief ihm aus der Nase, in erschreckender Menge. Was hatte er da gesagt? Er hatte gesagt … Was?

Aber selbst jetzt blieb ein Teil von Marinas Verstand distanziert, berechnend. Sie war von Dereks Beichte schockiert, aber war sie überrascht? Ein Anwalt ist nie überrascht.

Rasch sagte sie:»Deine Mutter Lucille war eine starke, dominante Frau. Ich weiß das, ich kannte sie. Als Mädchen, vor fünfundzwanzig Jahren, kam sie in ein Zimmer gestürzt und saugte sofort allen Sauerstoff auf.

Sie kam in einen Raum, und man hätte meinen können, ein Wind hätte alle Fenster gesprengt!«Marina wusste kaum, was sie sagte, nur dass ihr die Worte aus dem Mund fielen; ein Strahlen umspielte ihr Gesicht wie Flammen.»Lucille hat dich erstickt. Sie war keine normale Mutter. Was du mir da erzählst, bestätigt mich nur in meinem Verdacht.

Ich habe schon andere Opfer psychischen Inzests gesehen, ich kenne mich aus! Sie hat dich hypnotisiert, du hast um dein Leben gekämpft. Du hast dein eigenes Leben verteidigt. «Derek kniete noch auf dem Teppich und starrte Marina ausdruckslos an. Feste kleine Blutperlen hatten sich auf seiner geröteten Stirn gebildet, Kringel seines fettigen Haars fielen ihm in die Augen. Seine Energie war verbraucht. Er sah Marina jetzt an wie ein Tier, das keine Worte, sondern nur Geräusche von seinem Frauchen hört; gewisse Kadenzen, Rhythmen und deren Trost. Marina sagte nachdrücklich:»An jenem Abend hast du die Kontrolle verloren. Was immer passiert ist, Derek, das warst nicht du. Du bist das Opfer. Sie hat dich so weit getrieben! Und auch dein Vater hat seine Pflichten dir gegenüber vernachlässigt, er hat dich bei ihr gelassen, mit ihr allein gelassen hat er dich, im Alter von dreizehn Jahren. Dreizehn! Das hast du all die Monate nicht wahrhaben wollen. Das ist das Geheimnis, das du nicht anerkennen wolltest. Du hattest doch gar keine eigenen Gedanken, nicht wahr? Jahrelang nicht? Ihre Gedanken waren die deinen, mit ihrer Stimme. «Derek nickte stumm. Marina hatte ein Papiertuch aus dem polierten Leder-Behälter auf ihrem Schreibtisch genommen und tupfte ihm damit zärtlich übers Gesicht. Er hob ihr das Gesicht entgegen, schloss die Augen dabei. Als wäre diese plötzliche Nähe, diese Intimität ihnen nicht neu, sondern irgendwie seit langem vertraut. Marina sah den Jungen im Gerichtssaal, ihren Derek: ein neuer Mensch — das Gesicht frisch geschrubbt, das Haar sauber geschnitten, vor Gesundheit strotzend; erhobenen Hauptes, völlig unverstellt, ohne Falsch.» E s war die einzige Möglichkeit, endlich Schluss zu machen mit ihrer Liebe zu mir. «Er trug einen marineblauen Blazer mit dem eleganten, aber dezenten Monogramm der Mayhew Academy. Ein weißes Hemd, eine blaugestreifte Krawatte. Die Hände in einer Geste buddhistischer Ruhe gefaltet. Ein Junge, unreif für sein Alter. Emotional beeinflussbar. Nicht schuldig wegen vorübergehender Unzurechnungsfähigkeit. Es war eine transzendente Vision, und Marina wusste, sie würde sie erkennen, und allen, die Derek Peck junior anstarrten und seine Aussage hörten, würde das klar.

Derek lehnte sich gegen Marina, die über ihn gebeugt stand, er hatte sein nasses, heißes Gesicht an ihren Beinen versteckt, als sie ihn, um ihn zu trösten, hielt. Was für eine ranzige Wärme ging doch von ihm aus, und dazu wirkte er wie ein verschrecktes Tier, was für eine Not. Er schluchzte und stammelte kaum verständlich:»… rette mich! Lass nicht zu, dass man mir was tut. Bekomme ich Immunität, wenn ich alles gestehe? Wenn ich sage, was passiert ist, wenn ich die Wahrheit sage …« Marina nahm ihn in die Arme, die Finger in seinem Nacken. Sie sagte:»Natürlich rette ich dich, Derek.

Deshalb bist du doch zu mir gekommen, nicht wahr?«

(Deutsch von Bernhard Schmid)

Ein englischer Herbst

von MINETTE WALTERS

Minette Walters (*1949), geborene Minette Jebb, kam im englischen Bishop’s Stortford als Tochter eines Armeehauptmanns und einer Künstlerin zur Welt. Sie besuchte die Godolphin and Latymer School, verbrachte ein halbes Jahr als Freiwillige in Israel und absolvierte an der Durham University ein Französischstudium. Die Autorin, die mit ihrem Mann Alexander Walters zwei Söhne hat, arbeitete vor ihrer Laufbahn als Schriftstellerin als Zeitschriftenjournalistin in London sowie in der Parent Teacher Association (Eltern-Lehrer-Verband) und kandidierte bei der Kommunalwahl 1987.