Walters gehört zu den von der Kritik höchst gelobten neuen Autoren und Autorinnen, die in den neunziger Jahren zu schreiben begannen. Tatsächlich wurden ihre ersten drei Romane alle mit Preisen ausgezeichnet: The Ice House (1990; dt. Im Eishaus) bekam den John Creasey Award der British Crime Writers’ Association für den besten Erstlingsroman, The Sculptress (1993; dt. Die Bildhauerin) gewann den von den Mystery Writers of America ausgelobten Edgar für den besten Roman, und The Scold’s Bridle (1994; dt. Die Schandmaske) wurde von der Crime Writers’ Association der Gold Dagger Award für den besten Roman zugesprochen. Am häufigsten verglichen mit Ruth Rendell — deren Erfolg sie ihre eigenen Publikationsmöglichkeiten zuschreibt —, ist Walters eine Traditionalistin der besonderen Art: Zwar betont sie Familienbeziehungen und das klassische Rätselelement, lehnt die anheimelnde Note aber ab, ja verurteilt sie regelrecht.
Walters hat — abgesehen von einigen Liebesromanen in Kurzform, die sie als Zeitschriftenjournalistin unter nie aufgedeckten Pseudonymen verfasst hat — nicht sehr viele Kurzgeschichten geschrieben.
«Ein englischer Herbst «ist ein Beispiel für die ganz kurze Kurzgeschichte und zeigt eindrucksvoll auf, wie viel Charakter und Andeutungen sich in eine äußerst knappe Erzählung packen lassen.
Ich erinnere mich, dass ich dachte, Mrs.
Newbergs Problem sei weniger die Alkoholsucht ihres Mannes, als vielmehr ihr albernes Beharren darauf, ihrer Umwelt vorzumachen, er wäre ein maßvoller Mensch. Sie waren ein gut aussehendes Paar, beide groß und schlank, mit vollem schlohweißem Haar, stets teuer gekleidet in Kaschmir und Tweed. Gerechterweise muss ich sagen, dass er tatsächlich nicht wie ein Trinker aussah und sich auch nicht wie einer benahm, aber ich kann mich nicht erinnern, ihn in den zwei Wochen unserer Bekanntschaft je nüchtern erlebt zu haben. Seine Frau pflegte ihn mit Klischees zu entschuldigen, sprach andeutungsweise von Schlaflosigkeit, einem Todesfall in der Familie, einer alten Beinverletzung — aus dem Krieg natürlich —, die ihm das Gehen schwer mache. Dann und wann flog ein amüsiertes Lächeln über sein Gesicht, als hätte eine ihrer Bemerkungen ihn erheitert, aber die meiste Zeit saß er nur da und klammerte sich mit Blicken an irgendeinen festen Punkt, um das mühsam bewahrte Gleichgewicht nicht zu verlieren.
Ich schätzte sie beide auf Ende siebzig und fragte mich, was sie so weit von zu Hause fortgetrieben hatte, mitten hinein in einen kalten englischen Herbst. Mrs. Newberg wich aus. Nur ein kleiner Urlaub, zwitscherte sie mit vogelheller Stimme, deren bei konsonantischen Lauten gelegentlich harter Klang an Nordeuropa gemahnte. Sie warf dabei nervöse Blicke auf ihren Mann, als hätte sie Angst, er könnte ihr widersprechen. Vielleicht sprach sie die Wahrheit, aber dass ein altes amerikanisches Ehepaar sich für einen Ferienaufenthalt im Oktober ausgerechnet ein menschenleeres Hotel in einem von Stürmen geplagten Badeort an der Küste von Lincolnshire aussuchen sollte, schien mir reichlich unwahrscheinlich. Sie wusste, dass ich ihr nicht glaubte, aber sie war schlau genug, sich nicht auf lange Erklärungen einzulassen. Vielleicht war ihr klar, dass meine Bereitschaft, mich mit ihr zu unterhalten, von ungestillter Neugier genährt wurde.
«Es war der Wunsch meines Mannes, hierher zu kommen«, sagte sie mit gesenkter Stimme, als wäre damit alles gesagt.
Der Badeort war aus der Mode und die Saison vorbei, und Mrs. Newberg fühlte sich offensichtlich einsam. Wem wäre es, auf die Gesellschaft eines wortkargen Alkoholikers beschränkt, nicht so ergangen? Gelegentlich erschien abends ein reisender Vertreter im Speisesaal, um schweigend sein Abendessen einzunehmen, bevor er zu Bett ging, aber die Gespräche mit mir waren eigentlich ihre einzige Quelle der Unterhaltung. Auf eine oberflächliche Art freundeten wir uns miteinander an.
Natürlich wollte sie wissen, was mich an diesen Ort geführt hatte, aber auch ich konnte ausweichend sein. Ich sei auf der Suche nach einem Domizil, erklärte ich.
«Wie schön«, sagte sie unaufrichtig.»Aber möchten Sie sich wirklich so weit von London entfernt niederlassen?« Es war ein Vorwurf. Für sie, wie für so viele, waren Großstädte gleichbedeutend mit Leben.
«Ich mag den Lärm nicht«, bekannte ich.
Sie schaute zum Fenster, wo der Regen gegen die Scheiben prasselte.»Vielleicht ist es eher so, dass Sie keine Menschen mögen«, meinte sie.
Ich widersprach aus Höflichkeit.
«Mit dem Einzelnen habe ich keine Probleme«, sagte ich mit einem Blick zu ihrem Mann,»nur mit der Masse.« «Ja«, stimmte sie vage zu.»Mir persönlich sind Tiere auch lieber.« Sie gab oft solche sprunghaften Antworten, und ein- oder zweimal fragte ich mich tatsächlich, ob sie vielleicht nicht ganz bei Verstand sei. Aber wenn das zutraf, wie hatten die beiden dann ihren Weg an diesen abgelegenen Ort gefunden, wo Mr.
Newberg schon Mühe hatte, sich zwischen den Tischen in der Bar zurechtzufinden. Die Antwort war einfach. Das Hotel hatte ihnen einen Wagen zum Flughafen geschickt.
«War das nicht sehr teuer?«, fragte ich.
«Es war im Preis Inbegriffen«, sagte Mrs. Newberg mit Würde.
«Der Direktor persönlich hat uns abgeholt.« Sie schüttelte den Kopf über meine erstaunte Miene.
«Das kann man ja wohl erwarten, wenn man den vollen Preis bezahlt.« «Ich bezahle auch den vollen Preis«, sagte ich.
«Das bezweifle ich«, widersprach sie und seufzte:»Wir Amerikaner werden doch überall ausgenommen.« In der ersten Woche ihres Aufenthalts sah ich die beiden nur einmal außerhalb des Hotelgeländes. Ich traf sie am Strand, wo sie in dicke Mäntel und wollene Schals vermummt in Liegestühlen saßen und zur stürmischen See hinausblickten, die von einem bitterkalten Ostwind aufgewühlt wurde. Ich zeigte mich überrascht, sie zu sehen, und Mrs. Newberg, die aus irgendeinem Grund annahm, meine Verwunderung beziehe sich auf die Liegestühle, erklärte, für einen kleinen Aufpreis bekomme man im Hotel alles.
«Kommen Sie jeden Morgen hierher?«, fragte ich sie.
Sie nickte.»Es erinnert uns an zu Hause.« «Ich dachte, Sie leben in Florida.« «Ja«, sagte sie vorsichtig, als versuchte sie, sich zu erinnern, wie viel sie bereits preisgegeben hatte.
Mr. Newberg und ich tauschten ein Lächeln wie zwei Verschwörer. Er sagte selten etwas, aber wenn er sprach, dann immer mit Ironie.»Florida ist berühmt für seine Hurricanes«, bemerkte er, ehe er sein Gesicht wieder in den eiskalten Wind wandte.
Danach mied ich den Strand, weil ich keinen noch engeren Kontakt mit ihnen wollte. Es war nicht so, dass ich sie nicht mochte. Im Gegenteil, ich hielt mich ganz gern in ihrer Gesellschaft auf. Ich kannte niemanden, der so wenig neugierig war wie diese beiden, und die langen Pausen des Schweigens, die sich bei unseren Gesprächen einstellten, waren nie unangenehm. Aber ich verspürte keinerlei Verlangen, meine Tage damit zuzubringen, geselligen Umgang mit Fremden zu pflegen.
Mrs. Newberg machte eines Abends eine Bemerkung darüber.
«Es wundert mich, dass Sie nicht nach Schottland gefahren sind«, sagte sie.»Ich habe gehört, dass man in Schottland stundenlang laufen kann, ohne einer Menschenseele zu begegnen.« «In Schottland könnte ich nicht leben«, sagte ich.
«Ach so, ja. Das hatte ich vergessen. «War das eine Spitze, oder bildete ich es mir nur ein?» Sie suchen ja ein Haus.« «Ein Domizil«, verbesserte ich sie.
«Schön, dann eine Wohnung. Spielt das eine Rolle?« «Für mich schon.« Mr.