Ich finde schon allein hinaus
von NGAIO MARSH
Ngaio (sprich: Najo) Marsh (1895–1982) wurde in Neuseeland geboren und verbrachte auch den größten Teil ihres Lebens dort, befolgte allerdings die damals geltende» antiregionale «Regel und ließ die meisten ihrer Kriminalromane in England spielen, das sie 1928 erstmals besuchte. Parallel zu ihrer lukrativeren Laufbahn als Romanautorin frönte sie ihrer ersten Liebe, dem Theater, als Schauspielerin, Produzentin, Regisseurin, Bühnenbildnerin, Dozentin und Dramatikerin. Von an verbrachte sie dreißig Jahre lang einen Teil des Jahres als Regisseurin auf Tournee mit der studentischen Theatergruppe des Canterbury University College von Christchurch/Neuseeland. (Gemäß der im Theater üblichen Tradition reduzierte Marshs offizielles Geburtsdatum — 1899 — ihr tatsächliches Alter viele Jahre lang um vier Jahre.)
Marshs erster Roman, A Man Lay Dead (1934; dt. Das Todesspiel), spielte wie einige spätere Werke, darunter ihr letztes Buch, Light Thickens (1982; dt. Mord vor vollem Haus), in der Welt des Theaters. Ihre Theaterbegeisterung drückt sich auf subtilere Weise in der Tatsache aus, dass die meisten ihrer Morde im Verlauf einer Vorstellung passieren. Wie die Biografin Margaret Lewis im St. James Guide to Crime & Mystery Writers (4. Aufl., 1996), schreibt, sei Marsh ironischerweise nicht in der Lage gewesen, ihre Romane ebenso erfolgreich wie Agatha Christie für die Bühne zu bearbeiten, weil sie» ihr Gefühl fürs Theater verloren hatte und unbedingt die generelle Form der Romane wahren wollte, mit allen Dialogen, Gesprächen, Fragen und Antworten«.
In der Blütezeit vornehmer Amateurdetektive stellte Marsh ganz ungewohnt einen Polizisten in den Mittelpunkt des Geschehens — allerdings hatte Roderick Alleyn von Scotland Yard mit seinem persönlichen und professionellen Stil im Grunde mehr gemeinsam mit Dorothy L. Sayers’ Lord Peter Wimsey und Margery Allinghams Albert Campion als mit einem echten Gesetzeshüter. Eine weitere Gemeinsamkeit mit Wimsey und Campion besteht darin, dass Alleyn am Ende heiratet, und zwar eine gewisse Agatha Troy, die Marsh selbst ähnelt und eine erfolgreiche Malerin wird, eine Laufbahn, in der Marsh sich in ihren jungen Jahren selbst gesehen hatte.
Marshs Werdegang als Kriminalautorin verlief bemerkenswert geradlinig. Das Rätsel stand von Anfang an im Mittelpunkt ihres Werks, und in der Kunst, ihre Leser in die Irre zu führen, war sie Meisterin. Stil und Charakterschilderungen wurden reicher, das grundlegende Muster von Verbrechen, Ermittlung und Aufklärung änderte sich jedoch nie. Bemerkenswerterweise stehen ihre letzten Romane, die veröffentlicht wurden, als sie bereits Mitte achtzig war, ihren Vorgängern in Bezug auf Qualität in nichts nach, zählen sogar zu ihren besten Werken, was man von so altgedienten Autoren wie Agatha Christie oder Erle Stanley Gardner leider nicht behaupten kann.
Eine der seltenen Kurzgeschichten mit dem Titel» Ich finde schon allein hinaus«, ein Roderick-Alleyn-Roman im Miniaturformat, ist passenderweise auf Marshs bewährtem Schauplatz hinter den Kulissen angesiedelt.
An dem fraglichen Abend ging Anthony Gill, unfähig zu essen, still zu sitzen, zusammenhängend zu denken, zu sprechen oder zu handeln um halb sieben zu Fuß von seiner Mietwohnung zum Jupiter-Theater. Er wusste, dass niemand hinter der Bühne wäre, dass es für ihn im Theater nichts zu tun gab, dass er ruhig in seiner Wohnung bleiben und sich dann ankleiden, zu Abend speisen und so etwa um Viertel vor acht dort eintreffen sollte. Doch es war, als ob ihn etwas in seine Sachen schob, ihn auf die Straße schubste und ihn unausweichlich zwang, quer durchs West End ins Jupiter zu eilen. Trägheit hatte sich wie eine dünne Schicht über seine Gedanken gelegt. Zufällige Zeilen aus dem Stück kamen ihm in den Sinn, jedoch ohne irgendeine bestimmte Bedeutung. Er ertappte sich dabei, wie er immer wieder einen vollkommen irrelevanten Satz aufsagte:»Sie hatte so eine Art zu lachen, die einem Mann das Herz brechen konnte.« Piccadilly, Shaftesbury Avenue.»Hier bin ich also«, dachte er, in die Hawke Street einbiegend,»auf dem Weg zu meinem Stück. Eine Stunde und neunundzwanzig Minuten noch. Einen Schritt pro Sekunde. Es rast auf mich zu. Tonys erstes Stück. Armer junger Tony Gill. Mach dir nichts draus. Versuch’s noch mal.« Das Jupiter. Neonlichter: ICH FINDE SCHON ALLEIN HINAUS — von Anthony Gill. Und am Eingang der Programmaushang und die Fotos. Coralie Bourne mit H.
J. Bannington, Barry George und Canning Cumberland.
Canning Cumberland.
Die dünne Schicht über seinen Gedanken riss, und da war sie, die alles beherrschende Frage, und er würde darüber nachdenken müssen. Wie schlecht wäre Canning Cumberland, falls er betrunken auftrat? Glänzend schlecht, hieß es. Er würde sämtliche Register ziehen. Clevere Schauspielertricks, die anderen dumm dastehen lassen, die dramatische Ausgewogenheit zunichte machen.»In Mr. Cumberlands Händen wirkten mittelmäßige Dialoge und wenig überzeugende Situationen beinahe lebensecht. «Was fängt man mit einem betrunkenen Schauspieler an?
Er stand am Eingang und spürte, wie sein Herz pochte und sein Magen sich zusammenzog und ihm übel wurde.
Denn natürlich war es ein schlechtes Stück. In diesem Moment und zum ersten Mal war er sich dessen wirklich sicher. Es war schrecklich. Es gab nur eines, was gut daran war, und das stammte nicht von ihm. Coralie Bourne hatte es vorgeschlagen:»Ich glaube, das Stück, das Sie mir geschickt haben, geht so nicht, doch ich dachte mir Folgendes …«Es war eine glänzende Idee. Er hatte das Stück in diesem Sinn umgeschrieben und sich fast umgehend und eigentlich ziemlich naiv eingeredet, es sei von ihm, obgleich er zu Coralie Bourne schüchtern gesagt hatte:»Sie sollten als Mitverfasserin genannt werden. «Sie hatte sofort höchst nachdrücklich abgelehnt.»Das war doch nicht der Rede wert«, sagte sie.»Wenn Sie Dramatiker werden wollen, müssen Sie lernen, sich Ihre Ideen von überallher zu holen. Eine einzelne Szene ist da gar nichts. Denken Sie an Shakespeare«, fügte sie leichthin hinzu.»Ganze Konflikte! Also seien sie nicht albern. «Später hatte sie im gleichen hastigen, nervösen Tonfall hinzugefügt:»Erzählen Sie es bloß nicht herum.
Sonst glaubt man, bei meiner kleinen Anregung steckt mehr dahinter anstatt weniger. Bitte, versprechen Sie es.« Er versprach es; er glaubte nun, dass sein Ansinnen, eine so berühmte Schauspielerin wie Coralie Bourne neben einem unbekannten Jüngling als Mitverfasserin zu nennen, wohl ein arger Schnitzer gewesen sein müsse. Und wie Recht sie hatte, dachte er, denn es wird natürlich ein entsetzlicher Flop werden. Sie wird es noch bereuen, dass sie sich bereit erklärt hatte, darin mitzuwirken.
Draußen vor dem Theater gingen ihm albtraumhafte Szenarien durch den Kopf. Wie reagierte ein Publikum, wenn ein Erstlingswerk durchfiel? Klatschte man ein wenig, gerade so viel, dass der Vorhang hochging und rasch wieder über eine gequält dreinblickende Truppe von Akteuren fiel? Wie spärlich musste der Applaus ausfallen, damit ihm selbst der Auftritt erspart blieb? Und danach sollten sie ja noch nach Chelsea auf den Künstlerball. Eine abscheuliche Aussicht! Mit dem Gedanken, er gäbe alles auf der Welt darum, um die Aufführung noch zu verhindern, betrat er das Foyer. In den Büros brannten Lichter, und er blieb unschlüssig vor einer Anschlagtafel mit Szenenfotos stehen. Auf ihnen war, viel kleiner als die Hauptdarsteller, Dendra Gay zu sehen, deren Augen ihn direkt anblickten. Sie hatte so eine Art zu lachen, die einem Mann das Herz brechen konnte. »Na schön«, dachte er,»ich bin verliebt in sie. «Er wandte sich von dem Foto ab. Ein Mann trat aus dem Büro.»Mr. Gill? Telegramme für Sie.« Anthony nahm sie in Empfang und hörte beim Hinausgehen, wie der Mann ihm hinterher rief:»Dann viel Glück für heute Abend, Sir!« In der Seitenstraße warteten reihenweise Leute darauf, frühzeitig eingelassen zu werden.