Die anderen sagten etwas zu ihr, worauf sie nickte und sich dann in sich selbst zurückzuziehen schien. Mit gesenktem Kopf wartete sie ab, bereit für ihren Auftritt.
Dann richtete sie sich auf, schritt rasch auf die Bühnentür zu, stieß sie auf und rauschte weiter, unmittelbar gefolgt von Barry George.
Gerüche. Staub, abgestandene Farbe, Stoff. Gas. Immer stärker der Geruch von Gas.
Die Bühnenarbeiter rückten hinter den Kulissen zur Bühnenseite hinüber. Mike wagte sich aus seinem Versteck hervor. Er konnte die Souffleurnische sehen, wo mit verschränkten Armen der Inspizient stand und das Geschehen beobachtete. Hinter ihn hatten sich die Schauspieler geschart, die gerade keinen Auftritt hatten.
Etwas abseits standen zwei Garderobieren und schauten zu. Von der Bühne fiel Licht auf ihre Gesichter. Coralie Bournes Stimme ließ die Sätze wie Vögel in den Zuschauerraum fliegen.
Mike spähte aufmerksam zu Boden. Hatte er etwa mit dem Fuß eine Gasdichtung auseinander geschoben? Der Inspizientengehilfe kam vorbei, starrte ihn über die Schulter an und ging, an die Türen klopfend, den Durchgang hinunter.»Fünf Minuten bis zum Schlussvorhang, bitte. Fünf Minuten. «Der auf alt geschminkte Schauspieler kam hinter ihm heraus.»Gott, stinkt das hier nach Gas«, flüsterte er.»Eklig, was?«, erwiderte der Gehilfe. Sie starrten Mike argwöhnisch an und gingen dann zu der wartenden Gruppe hinüber. Der Mann sagte etwas zum Inspizienten, der daraufhin den Kopf reckte und schnüffelte. Dann machte er eine ungeduldige Handbewegung, wandte sich wieder zum Souffleurkasten hinüber und reichte über den Kopf der Souffleuse. Als irgendwo in den Soffitten eine Klingel ertönte, sah Mike einen Bühnenarbeiter auf die Steuerbühne klettern.
Das Grüppchen neben der Souffleurnische war ganz aufgeregt. Alle blickten nach hinten zum Eingang der Passage. Der Inspizientengehilfe nickte und kam zurückgerannt. Er klopfte an die erste Tür rechts.
« Mr. Cumberland! Mr. Cumberland! Auf die Bühne.« Er rüttelte an der Türklinke.» Mr. Cumberland! Sie sind dran. « Mike rannte in den Durchgang. Der Gehilfe hustete und würgte und riss ruckartig an der Tür.»Gas!«, sagte er.
«Gas!« «Treten Sie sie ein.« «Ich hole Mr. Reynolds.« Er war verschwunden. Der Durchgang war recht schmal.
Mike nahm die halbe Strecke zum Raum gegenüber Anlauf und rannte mit gesenktem Kopf, eine Schulter nach vorn, auf die Tür zu. Sie gab leicht nach, und ein plötzlich stärkerer, Übelkeit erregender Geruch geriet ihm in die Lungen. Ein gewaltiger Lärm hatte eingesetzt, und während er erneut ausholte, dachte er:»Draußen hagelt es.« «Moment mal bitte, Sir.« Es war ein Bühnenarbeiter. Er hatte Hammer und Schraubenzieher geholt und trieb nun den Schraubenzieher bis zum Anschlag zwischen Schloss und Türrahmen, um die Tür auszuhebeln. Schrauben ächzten, Holz splitterte und Gas strömte in den Durchgang.»Keine Fenster«, hustete der Bühnenarbeiter.
Mike wand sich Alleyns Schal um Mund und Nase.
Schon fast vergessene Verhaltensregeln bei Gasschutzübungen kamen ihm wieder in den Sinn. Der Raum sah seltsam aus, doch konnte er den auf dem Stuhl kauernden Mann recht deutlich erkennen. Er duckte sich und stürmte hinein.
Überall anstoßend, schleifte er die schwere, leblose Last rückwärts hinaus. Dabei kribbelte es ihm in den Armen.
Ein hoher Ton summte unablässig in seinem Hirn. Wie schwebend kam er ein kurzes Stück voran, dann sank er zwischen mehreren Beinpaaren auf den Betonboden.
Irgendwo weit weg sagte jemand laut:»Ich kann Ihnen nur danken für die Freundlichkeit, mit der Sie ein — wie ich sehr wohl weiß — höchst unvollkommenes Stück aufnehmen.« Dann setzte wieder das Geräusch von Hagel ein. Ein himmlischer Schwall frischer Luft strömte ihm in Mund und Nase.»Ach, herrlich!«, dachte er und setzte sich auf.
Das Telefon klingelte.»Wie wär’s«, schlug Mrs. Alleyn vor,»wenn du es diesmal ignorierst.« «Vielleicht ist es der Yard«, entgegnete Alleyn und hob ab.
«Ist dort die Wohnung von Chief Inspector Alleyn? Ich rufe aus dem Jupiter-Theater an, um Ihnen zu sagen, dass der Chief Inspector hier ist. Ihm ist ein kleines Missgeschick passiert. Alles in Ordnung, aber ich glaube, es wäre gut, wenn ihn jemand nach Hause bringen könnte.
Kein Grund zur Sorge.« «Was denn für ein Missgeschick?«, fragte Alleyn.
«Er — äh — er hat ein bisschen Gas abgekriegt.« « Gas! Ist gut. Danke, ich komme.« «Ach, wie lästig, Liebling«, sagte Mrs. Alleyn.»Was für ein Fall ist es denn? Selbstmord?« «Hört sich ganz nach einer Maskerade an, wie sie im Buche steht … Mike ist in Schwierigkeiten.« «Um Gottes Willen, was denn für Schwierigkeiten?« «Er hat Gas abgekriegt. Ist aber nicht so schlimm. Gute Nacht, Liebling. Bleib wegen mir nicht auf.« Als er zum Theater kam, lag der vordere Teil des Zuschauerraums im Dunkeln. Er begab sich über die schmale Gasse zum Bühneneingang, wo er aufgehalten wurde.
«Scotland Yard«, sagte er und zeigte seinen offiziellen Ausweis.
«Ha«, sagte der Pförtner.»Wie viele von euch kommen denn noch?« «Der Mann dort drin hat für mich gearbeitet«, sagte Alleyn und ging hinein. Der Pförtner folgte ihm protestierend.
Rechts vom Eingang befand sich ein großer Kulissenraum, dessen Flügeltüren offen standen. Dort saß Mike in einem Lehnstuhl und war ziemlich blass um die Nase. Drei Männer und zwei Frauen, alle mit geschminkten Gesichtern, standen neben ihm, dahinter eine Gruppe Bühnenarbeiter mit Reynolds, dem Inspizienten, und etwas weiter weg drei Männer im Abendanzug. Die Männer schienen wie vom Donner gerührt. Die Frauen hatten geweint.
«Tut mir wirklich furchtbar Leid, Sir«, sagte Mike.»Ich habe versucht, es zu erklären. Das hier«, fügte er für die Anwesenden hinzu,»ist Inspector Alleyn.« «Ich versteh das alles nicht«, sagte der älteste der Männer im Abendanzug verärgert. Er wandte sich an den Pförtner.»Sie sagten doch — « «Ich hab seinen Ausweis gesehen — « «Weiß ich«, sagte Mike,»aber Sie müssen verstehen — « «Das ist Lord Michael Lamprey«, sagte Alleyn.»Ein Neuzugang im Polizeidezernat. Was hat sich hier abgespielt?« «Dr. Rankin, würden Sie — ?« Der zweite Mann im Abendanzug trat hinzu.»Ist gut, Gosset. Schlimme Sache, Inspector. Ich sagte gerade, man müsste die Polizei verständigen. Wenn Sie bitte mitkommen wollen — « Alleyn folgte ihm durch eine Tür auf die eigentliche Bühne, die spärlich beleuchtet war. In der Mitte hatte man einen Klapptisch aufgestellt, auf dem, mit einem Tuch bedeckt, eine unverkennbare Gestalt lag. Der allgegenwärtige Geruch von Gas hing schwer über dem Tisch.
«Wer ist das?« «Canning Cumberland. Er hatte die Tür zu seiner Garderobe abgeschlossen. Drinnen steht ein Gasofen. Ihr junger Freund schleifte ihn heraus, sehr beherzt, doch es war nichts mehr zu machen. Ich saß im Publikum. Gosset, der Intendant, hatte mich zum Abendessen eingeladen. Ein absolut klarer Fall von Selbstmord, Sie werden sehen.« «Am besten schaue ich mir mal den Raum an. War seither jemand drin?« «Gott, nein. Es war ziemlich mühsam, das Gas da rauszukriegen. Sie haben den Haupthahn abgedreht. Ein Fenster gibt es nicht. Sie mussten die Flügeltür hinter der Bühne und eine kleine Außentür unten am Durchgang aufmachen. Vielleicht kann man jetzt rein.« Er ging voran zum Garderobendurchgang.»Immer noch ziemlich dicke Luft«, sagte er.»Das erste Zimmer rechts ist es. Sie haben die Tür aufgebrochen. Bleiben Sie besser dicht am Fußboden.« Die starken Lampen über dem Spiegel brannten, und der Raum wirkte immer noch benutzt. Das Gasöfchen stand links an der Wand. Alleyn hockte sich daneben nieder.
Das Ventil war immer noch aufgedreht, der Hebel stand parallel zum Boden. Auf dem Heizkörper, dem Gashahn selbst und dem Teppich daneben lag cremiger Puder. Auf der Ablage am Toilettentisch direkt neben dem Ofen stand eine Schachtel mit diesem Puder, weiter hinten waren unter dem Spiegel mehrere Tiegel mit Fettschminke aufgereiht. Daran schloss sich ein Waschbecken an, vor dem ein umgekippter Stuhl lag. Alleyn konnte Abdrücke von Schuhabsätzen ausmachen, die über den Teppichflor zu der Tür direkt gegenüber führten. Neben dem Waschbecken standen eine zu drei Vierteln geleerte Literflasche Whisky und ein Stumpenglas. Alleyn hatte genug gesehen und trat wieder auf den Durchgang hinaus.