Für den Autor, der die Psyche seiner Figuren ausloten will, gibt es nichts so katastrophal Katalytisches wie das Eindringen eines Verbrechens in eine ansonsten friedliche Umgebung. Bei einem Verbrechen geraten sämtliche Beteiligten in eine Konfliktsituation, der sie sich nicht entziehen können: die Ermittler, der Täter, die Opfer und diejenigen, die mit den Ermittlern, dem Täter und den Opfern in Verbindung stehen. Konfrontiert mit monströsen, traumatischen Erlebnissen, werden Mut und Seelenstärke der Figuren auf die Probe gestellt. An diesem Punkt, wenn die Überzeugungen, der Seelenfrieden, die geistige Gesundheit und die Lebensart einer Figur in ihren Grundfesten erschüttert werden, geschieht es, dass sich ein krankhafter Zug offenbart. Und aus dem Zusammenprall der Krankhaftigkeit des Einzelnen mit der Krankhaftigkeit aller anderen Figuren erwachsen Dramatik und Katharsis.
Einige der größten Werke der Literatur spielen sich vor dem Hintergrund eines abscheulichen Verbrechens ab.
Hamlets monumentaler innerer Kampf, mit dem er sein Gewissen zu überwinden und den Part der Nemesis zu spielen trachtet, hätte nicht stattfinden können, wenn sein Vater nicht in einem brutalen Akt von Brudermord vergiftet worden wäre. Ödipus konnte sein Schicksal nicht erfüllen, ohne zuvor König Laios auf der Straße nach Theben zu töten. Medea wäre nicht in der Lage, in der sie sich in Korinth befindet — eine Ausgestoßene, die vom nervösen Kreon aufs Neue ausgestoßen werden soll, da er sich ihrer Fähigkeiten als Zauberin nur zu bewusst ist —, wäre ihr der Ruf als treibende Kraft beim Tod von König Pelias nicht vorausgeeilt. Jeden, der liest, dürfte es daher kaum überraschen, dass Schriftsteller nicht bloß weiterhin vom Verbrechen fasziniert sind, sondern es auch weiterhin als Rückgrat eines Großteils ihrer Prosa verwenden.
Das Verbrechen erfüllt in einem literarischen Werk eine Doppelfunktion. Erstens dient es als Handlungsfaden für die Geschichte: Das Verbrechen muss untersucht und im Rahmen der Verwicklungen und Wendungen des Plots gelöst werden. Zweitens — was vielleicht noch wichtiger ist — fungiert das Verbrechen auch als Gerüst, quasi als Skelett für den Körper der Geschichte, die erzählt werden soll. Über dieses Skelett kann die Autorin je nach Belieben viel oder wenig stülpen. Sie kann das Skelett nur aus Knochen belassen und eine Geschichte erzählen, die knapp, präzise und ohne Umschweife und Ausschmückungen zur Auflösung und zum Schluss kommt. Oder sie kann das Skelett mit Muskeln, Gewebe, Adern, Organen und Blut ausstatten, also mit so unterschiedlichen Erzählelementen wie Thema, tiefer gehender Charakterisierung, literarischen Symbolen und Nebenhandlungen sowie den spezifisch krimibezogenen Erzählelementen wie Hinweisen, falschen Fährten, Spannung und einer ganzen Reihe von altbewährten Motiven der Kriminalliteratur: die hermetisch verschlossene Todeskammer (oder der abgeschlossene Raum), der offensichtlichster Tatort, die vom wahren Mörder ausgelegten falschen Spuren, die fixe Idee. Auf diese Weise können ihre Figuren Hand in Hand in Richtung der unausweichlichen Auflösung marschieren oder sich von den unzähligen Möglichkeiten ablenken lassen, die sich ihnen mittels erweiterter Handlung und komplizierterer Erzählstruktur bieten.
Wieso sollte eine Schriftstellerin sich also überhaupt mit etwas anderem befassen wollen? Ich sehe keinen Anlass dazu. Denn solange sie der Überzeugung folgt, die einzige Regel sei die, dass es keine Regeln gibt, sind ihr auf diesem Gebiet keine Grenzen gesetzt.
Das beantwortet aber noch nicht die Frage, wieso die Kriminalliteratur eine derartige Anziehungskraft auf Autorinnen ausübt. Es ist in der Tat eine Frage, die Journalisten mir mit ziemlich nervtötender Regelmäßigkeit immer wieder stellen.
In Großbritannien und dem Commonwealth wird das Goldene Zeitalter des Kriminalromans — das sich meines Erachtens von den zwanziger bis in die fünfziger Jahre erstreckt — von Frauen beherrscht. Ihre Namen stellen tatsächlich ein Pantheon dar, in das jede moderne Autorin aufgenommen zu werden strebt. Agatha Christie, Dorothy L. Sayers, Ngaio Marsh, Margery Allingham … Man kann sich unschwer vorstellen, weshalb Schriftstellerinnen während des gesamten zwanzigsten Jahrhunderts bemüht waren, in diesen erlauchten Kreis vorzustoßen: Sobald sich eine auf einem literarischen Gebiet etablierte, folgten andere rasch nach. Die Faszination, die die Kriminalschriftstellerei auf Frauen ausübte, lässt sich daher leicht erklären: Frauen beschlossen, Kriminalgeschichten zu schreiben, weil sie darin erfolgreich waren. Der Erfolg der einen zieht das Erfolgsstreben einer anderen nach sich.
Dies trifft auch auf die Vereinigten Staaten zu. Der Unterschied dort besteht aber darin, dass das Goldene Zeitalter des Kriminalromans von Männern dominiert wird und Frauen erst später nachzogen. Wenn wir an das Goldene Zeitalter in Amerika denken, fallen uns Dashiell Hammett und Raymond Chandler ein, Geschichten mit einem Ich-Erzähler, hart gesottenen Privatdetektiven, die rauchen, Whisky trinken, in heruntergekommenen Apartments wohnen und Frauen abschätzig als» Weiber« bezeichnen. Sie setzen Schusswaffen und ihre Fäuste ein und verfügen über jede Menge Arroganz. Sie sind einsame Wölfe und gefallen sich in dieser Rolle.
In diese männlich dominierte Welt einzubrechen verlangte von den Schriftstellerinnen gehörigen Mumm und Zielstrebigkeit. Einige von ihnen entschieden sich dafür, freundlichere, sanftere Kriminalromane zu schreiben, die der Empfindsamkeit der Leserinnen entsprachen, die sie anzuziehen hofften. Andere beschlossen, sich ohne Umschweife unter die Männer zu mischen, indem sie Detektivinnen schufen, die ebenso knallhart waren wie die Männer, an deren Stelle sie treten wollten. Sue Grafton und Sara Paretsky erbrachten den unwiderlegbaren Beweis, dass eine weibliche Spürnase von einem männlichen wie von einem weiblichen Publikum akzeptiert werden konnte, und nun traten plötzlich zahlreiche andere Autorinnen in Graftons und Paretskys Fußstapfen. Die Szene erweiterte sich also auch in den Vereinigten Staaten und bot Frauen ein zusätzliches Ventil für ihre kreativen Energien.
Die Kriminalliteratur ist ein weites Feld, so breit und vielfältig wie das Verbrechen an sich. Weil es keine absolut strikten Regeln gibt und weil die wenigen tatsächlich vorhandenen Regeln dazu da sind, gebrochen zu werden (man denke nur an den Aufruhr 1926 beim Erscheinen von Agatha Christies The Murder of Roger Ackroyd), kann sich die Autorin jeden erdenklichen Schauplatz aussuchen, um ihn dann mit den ausgefallensten Spürnasen zu bevölkern: Teenagern, Kindern, alten Damen, Tieren, Stubenhockern und Leuten mit Platzangst, Lehrerinnen, Ärzten, Astronauten und so fort, so weit die Fantasie sie tragen kann. Wenn dies der Grundsatz der Kriminalliteratur ist, sollte die Frage eigentlich nicht lauten, wieso so viele Frauen Kriminalgeschichten schreiben, sondern wieso eigentlich nicht alle Kriminalgeschichten schreiben.
Dieser Band versucht nicht, eine Antwort auf diese Frage zu geben. Stattdessen stellt er Ihnen zu Ihrer Unterhaltung ein ganzes Jahrhundert an Kriminalgeschichten und spannenden Erzählungen von Frauen vor. Ihnen wird auffallen, dass in dieser Sammlung einesteils Namen vertreten sind, die mit der Kriminalliteratur eng verbunden sind — Dorothy L. Sayers, Minette Walters, Sara Paretsky und andere —, aber auch Namen erscheinen, die man normalerweise nicht mit Kriminalliteratur in Verbindung bringt, etwa Nadine Gordimer und Joyce Carol Oates. Ich habe versucht, eine möglichst breite Auswahl an Autorinnen zusammenzustellen, weil sich in so einer breiten Auswahl meine grundlegende Überzeugung widerspiegelt: Kriminalliteratur muss nicht als Genreliteratur betrachtet werden. Sie ist nicht auf ein paar durchschnittlich begabte Praktikerinnen beschränkt. Und was das Wichtigste ist – sie ist tatsächlich etwas, was die Zeit überdauern kann, sie überdauern wird und bereits überdauert hat.
Was mich als Autorin mit am meisten irritiert, ist die Tatsache, dass viele Menschen Kriminalliteratur für eine minderwertige Form schriftstellerischer Betätigung erachten. In all den Jahren, die ich nun Kriminalromane schreibe, habe ich zahlreiche Gespräche mit Leuten geführt, die diesen höchst seltsamen Standpunkt vertreten.