«Miss Bournes Theorie«, begann Alleyn. Mr. George lachte.
«Coralie?«, sagte er.»Sie hat also eine Theorie! Na ja, lassen wir das.« «Ihre Theorie ist folgende: Cumberland sah einen Mann, den er irrtümlich für ihren Ehemann hielt, und da er eine krankhafte Angst vor dessen Rückkehr hatte, trank er eine Flasche Whisky fast vollständig aus und vergiftete sich mit Gas. Die Kleidung und der Bart, die ihn so in die Irre führten, haben meines Wissens Sie für Mr. Anthony Gill bestellt.« Diese Behauptung zeitigte eine durchschlagende Wirkung. Barry George erging sich in einem Schwall von Einwänden und entschuldigenden Erklärungen. Nicht im Entferntesten habe er daran gedacht, den armen alten Ben wieder auferstehen zu lassen, der jetzt zweifellos tot, aber doch in vieler Hinsicht einer der Besten gewesen war. Sie hatten doch alle vorgehabt, als übertriebene Figuren aus einem Melodram auf den Kostümball zu gehen. Nicht um alles in der Welt — Er gestikulierte und protestierte. Am Haaransatz brach ihm der Schweiß aus.»Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen«, rief er.»Was behaupten Sie da?« «Ich behaupte unter anderem, dass Cumberland ermordet wurde.« «Sie sind wahnsinnig! Er selber hatte sich eingeschlossen. Man musste die Tür aufbrechen. Ein Fenster gibt es nicht. Sie sind verrückt!« «Verzichten wir doch«, sagte Alleyn genervt,»auf den Unsinn mit den verschlossenen Räumen. Also, Mr. George, Sie kannten Benjamin Wlasnoff ziemlich gut.
Wollen Sie uns etwa erzählen, bei Ihrem Vorschlag, Mr.
Gill sollte einen Mantel mit Pelzkragen, einen schwarzen Schlapphut, schwarze Handschuhe und einen roten Bart tragen, sei Ihnen nie der Gedanke gekommen, er könnte mit dieser Verkleidung Miss Bourne und Cumberland einen Schrecken einjagen?« «Ich war nicht der Einzige«, brauste er auf.»H. J. wusste Bescheid. Und wenn es ihn verschreckt hätte, hätte ihr das wohl nicht sonderlich Leid getan. Sie hatte die Nase ziemlich voll von ihm. Jedenfalls, wenn es Mord ist, hat das Kostüm nichts damit zu tun.« «Das«, versetzte Alleyn und erhob sich,»werden wir hoffentlich noch herausfinden.« Neben dem Gasöfchen in Barry Georges Garderobe stand Sergeant Bailey, ein Spezialist für Fingerabdrücke.
Sergeant Gibson, der Polizeifotograf, und ein uniformierter Wachtmeister befanden sich in der Nähe der Tür. In der Mitte des Raums stand Barry George, sah von einem zum anderen und zupfte nervös an seiner Lippe herum.
«Ich weiß nicht, wieso er will, dass ich mir das alles anschaue«, sagte er.»Ich bin erschöpft. Ich bin emotional am Ende. Was macht er denn? Wo steckt er?« Alleyn war mit H. J., Mike und Sergeant Thompson nebenan in Cumberlands Garderobe. Die war mittlerweile ziemlich frei von Gasdämpfen, und das Öfchen brannte behaglich. Sergeant Thompson streckte sich bequem auf dem Sessel neben dem Heizofen aus, hielt den Kopf gesenkt und die Augen geschlossen.
«Die Theorie ist folgende, Mr.
Bannington«, sagte Alleyn.»Sie und Cumberland gingen zum letzten Mal von der Bühne ab. Miss Bourne, Mr. George und Miss Gay sind auf der Bühne. Lord Michael steht draußen direkt am Eingang zur Passage. Garderobieren und Bühnenarbeiter sehen von der Seite her zu. Cumberland hat sich sturzbetrunken in seiner Garderobe eingeschlossen und schläft tief. Das Gasöfchen brennt auf höchster Stufe.
Zuvor hatte er Puder aufgelegt, und eine dicke Puderschicht liegt ungestört auf dem Gasanschluss. Also.« Er klopfte an die Wand.
Mit einem scharfen Knall erlosch das Feuer, gefolgt vom Zischen ausströmenden Gases. Alleyn drehte die Gashähne zu.»Sehen Sie«, sagte er,»ich habe auf der gepuderten Oberfläche einen ausgezeichneten Abdruck hinterlassen. Und jetzt kommen Sie mit nach nebenan.« Nebenan redete Barry George stammelnd auf ihn ein:
«Aber ich hatte ja keine Ahnung. Ich kenne mich damit nicht aus. Ich weiß nichts davon.« «Zeigen Sie es Mr. Bannington, Bailey, ja?« Bailey kniete sich hin. Die Zuleitung war vom Ventil am Ofen getrennt. Er öffnete den Gashahn in der Leitung und blies in den Schlauch.
«Ein Luftstau, sehen Sie. Es funktioniert perfekt.« H.J. starrte Barry George fassungslos an.»Aber ich weiß doch gar nichts über Gas, H.J … H.J., sagen Sie ihnen doch — « «Einen Moment. «Alleyn entfernte die Handtücher, die über die Ablage am Toilettentisch gebreitet waren, und förderte dabei ein leeres Blatt Papier zutage, auf dem das aufsteckbare Verbindungsteil aus Gummi lag.
«Wollen Sie bitte diese Lupe nehmen, Bannington, und sich das ansehen. Sie werden feststellen, dass es mit grellroter Farbe befleckt ist. Ein sehr schwacher Fleck, aber eindeutig Fettschminke. Und direkt über dem Fleck werden Sie ein drahtiges Haar erkennen. So ähnlich wie Dichtungsmaterial, ist es aber nicht. Es ist Kunsthaar, nicht wahr?« Die Lupe verharrte zitternd über dem Papier.
«Kommen Sie, ich halte sie Ihnen«, sagte Alleyn. Er griff H.J. über die Schulter, zupfte ihm flink ein Büschel aus dem falschen Schnurrbart und ließ es auf das Papier fallen.»Identisch, sehen Sie. Orangegelb. Scheint mit Mastix am Verbindungsteil festzukleben.« Die Lupe fiel herunter. H.J. wirbelte herum, fixierte Alleyn eine Sekunde lang und versetzte ihm dann mit voller Wucht einen Faustschlag ins Gesicht. Obwohl er ziemlich klein war, waren drei Mann nötig, um ihn festzuhalten.
«In gewissem Sinn, Sir, ist es praktisch, wenn sie einem in die Fresse hauen«, sagte Sergeant Thompson eine halbe Stunde später.
«Dann kann man sie einfach hochnehmen und sich das Getue sparen von wegen ›würden Sie aufs Revier kommen und eine Aussage machen‹.« «Stimmt«, sagte Alleyn und rieb sich den Unterkiefer.
Mike sagte:»Er muss in die Garderobe gegangen sein, nachdem Barry George und Miss Bourne zu ihrem Auftritt gerufen worden waren.« «Genau. Er musste sich beeilen. Wenn der Inspizientengehilfe kam, musste er schon wieder in seinem eigenen Zimmer sein.« «Aber — was ist mit dem Tatmotiv?« «Das, mein lieber Mike, ist genau der Grund, weshalb wir um halb zwei Uhr morgens immer noch in diesem erbärmlichen Theater sitzen. Sie erhalten hier soeben einen Einblick in die trüberen Seiten der Arbeit einer Mordkommission. Wollen Sie nach Hause?« «Nein. Geben Sie mir noch einen Auftrag.« «Also gut. Etwa dreieinhalb Meter vom Souffleuraufgang steht eine Art Abfalleimer. Durchsuchen Sie ihn.« Um siebzehn Minuten vor zwei, als die Garderoben und der Durchgang abgesucht waren und Alleyn eine Pause angeordnet hatte, kam Mike mit verdreckten Händen zu ihm.» Heureka«, sagte er,»hoffe ich jedenfalls.« Alle gingen in Banningtons Zimmer. Alleyn breitete die Papierschnipsel, die Mike ihm gegeben hatte, auf dem Toilettentisch aus.
«Die hat jemand ganz nach unten in den Eimer geschoben«, sagte Mike.
Alleyn schob die Schnipsel umher. Thompson pfiff durch die Zähne. Bailey und Gibson brummten einander etwas zu.
«Da haben wir’s«, sagte Alleyn endlich.
Sie scharten sich um ihn. Der Brief, den H.J. Bannington sechs Stunden und fünfundvierzig Minuten zuvor hier an diesem Tisch geöffnet hatte, war wie ein Puzzle zusammengesetzt.
«Lieber H.J., nach Einsicht meines monatlichen Kontoauszugs stattete ich meiner Bank heute Morgen einen Besuch ab und bekam einen Scheck gezeigt, bei dem es sich zweifellos um eine Fälschung handelt. Deiner schauspielerischen Wandlungsfähigkeit, mein lieber H. J., kommt nur noch deine Verwegenheit als Schriftkünstler gleich. Doch Ruhm hat auch seine Nachteile. Die Kassiererin erkannte dich. Ich beabsichtige, gerichtliche Schritte einzuleiten.« «Ohne Unterschrift«, sagte Bailey.
«Sehen Sie sich die Visitenkarte bei den roten Rosen in Miss Bournes Zimmer an, signiert mit C.C. Eine sehr auffällige Handschrift. «Alleyn wandte sich an Mike.
«Wollen Sie immer noch Polizist werden?« «Ja.« «Gott steh Ihnen bei. Kommen Sie morgen in mein Büro, dann reden wir drüber.« «Danke, Sir.« Sie gingen hinaus, ließen einen Dienst habenden Wachtmeister dort zurück. Es war ein kalter Morgen.