Mike blickte zur Fassade des Jupiter-Theaters hoch. Er konnte die Schrift auf dem Neonschild gerade noch ausmachen: ICH FINDE SCHON ALLEIN HINAUS — von Anthony Gill.
Sommerleute
von SHIRLEY JACKSON
Shirley Hardie Jackson (1916-65) war als Romanautorin und Kurzgeschichtenerzählerin sehr produktiv, doch wird ihr Name vor allem mit einer ganz bestimmten Erzählung in Verbindung gebracht —»The Lottery«(1948; dt. Die Lotterie). Geboren in San Francisco, wuchs Jackson in Burlingame, Kalifornien auf und studierte an den Universitäten von Rochester und Syracuse. Ihre erste größere Veröffentlichung, eine Kurzgeschichte mit dem Titel» My Life with R.H. Macy«, erschien 1941 in The New Republic. 1948 kam ihr erster Roman heraus, The Road Through the Wall, und im gleichen Jahr wurde» The Lottery «im New Yorker veröffentlicht und beschwor eine große Kontroverse herauf. Wie Jackson in ihrem Essay «Biography of a Story«(1960) beschreibt, konnte keiner der Geschichte etwas abgewinnen (auch nicht Jacksons Agentin und der Verleger, der sie kaufte). Harold Ross, der Herausgeber des New Yorker, verstand sie nicht, und sie rief eine Flut von verstörten Leserbriefen hervor.
Jackson, wegen ihrer berühmten Story auf Horror und Übernatürliches festgelegt, war jedoch weit vielseitiger, und neben Kinderbüchern umfasst ihr Werk auch den unbeschwert häuslich-humorvollen Aspekt in ihren Autobiografien Life among the Savages (1953) und Raising Demons (1957).
Jacksons berühmtes Gespür für den subtil angedeuteten Horror entwickelte sich recht früh, etwa in ihrer knappen Kurzgeschichte» Janice«(1938), in der eine Collegestudentin auf unglaublich lässige Art ihren Selbstmordversuch beschreibt. Wie Jacksons Ehemann Stanley Edgar Hyman in seiner Einleitung zur posthum veröffentlichten Sammlung mit dem Titel Come Along with Me (1968) beschreibt, führte diese während ihrer frühen Studienzeit in Syracuse verfasste Geschichte zur ersten Begegnung des Paars.
«Sommerleute «ist eine subtile, auf verstörende Weise unaufgelöste Erzählung, in der eine immer größer werdende Bedrohung in den Alltag einbricht. Ist es eine Allegorie, eine Horrorstory, eine Kriminalgeschichte?
Sterben die Allisons am Ende oder werden sie von irgend jemandem terrorisiert? Die Geschichte macht die Leser zu Detektiven, ohne deren Schlussfolgerungen jedoch unbedingt zu belegen.
Das Sommerhäuschen der Allisons war sieben Meilen vom nächsten Ort entfernt hübsch auf einem Hügel gelegen. Auf drei Seiten blickte man hinunter auf eine sanfte Baumlandschaft und Wiesen, die auch mitten im Sommer selten vertrockneten. Auf der vierten Seite befand sich, dicht am hölzernen Bootssteg, den die Allisons immer wieder reparieren mussten, der See, der von ihrer Veranda vorm Haus, von der seitlichen Veranda oder jedem Punkt auf der Holztreppe, die von der Veranda ans Wasser hinunterführte, immer gleich gut aussah. Obwohl die Allisons ihr Sommerhaus liebten, sich schon im Frühsommer auf die Ankunft dort freuten und im Herbst nur ungern wieder wegfuhren, hatten sie sich nicht die Mühe gemacht, irgendwelche Verbesserungen vorzunehmen, denn ihnen bedeuteten Haus und See schon Verbesserung genug für das Leben, das ihnen noch verblieb. Das Haus hatte keine Heizung, bis auf die spärliche Versorgung aus der Wasserpumpe im Hof kein fließendes Wasser und keinen Strom. Siebzehn Sommer lang hatte Janet Allison auf einem Petroleumherd gekocht und ihren gesamten Wasserbedarf heiß gemacht, Robert Allison hatte jeden Tag eimerweise Wasser von der Pumpe hereingetragen und abends seine Zeitung im Schein der Petroleumlampe gelesen, und auch als hygienebewusste Stadtmenschen hatten sie es gelernt, ihr Aborthäuschen als selbstverständlich hinzunehmen. In den ersten zwei Jahren hatten sie all die üblichen Variete- und Zeitschriftenwitze über Aborthäuschen erzählt, sich inzwischen aber, seit nicht mehr oft Gäste kamen, die es zu beeindrucken galt, in behaglicher Sicherheit eingerichtet, in der das Aborthäuschen, ebenso wie Pumpe und Petroleum, zu einem unerlässlichen Bestandteil ihres Sommerlebens zählte.
Die Allisons waren an sich ganz normale Leute.
Mrs. Allison war achtundfünfzig Jahre alt, Mr. Allison sechzig. Ihre Kinder waren dem Sommerhäuschen mittlerweile entwachsen und fuhren mit ihren eigenen Familien ans Meer in Urlaub. Ihre Freunde waren entweder gestorben oder hatten sich das ganze Jahr über in behaglichen Häusern niedergelassen, und ihre Nichten und Neffen wollten sich immer nicht festlegen. Im Winter versicherten sie einander, in ihrer Wohnung in New York ließe es sich doch aushalten, solange man auf den Sommer wartete, und im Sommer sagten sie sich, den Winter würde man auch durchstehen, während man darauf wartete, wieder aufs Land zu fahren.
Da sie alt genug waren, sich ihrer festen Angewohnheiten nicht zu schämen, verließen die Allisons ihr Sommerhaus immer regelmäßig Anfang September am Dienstag nach dem Labor Day, und regelmäßig tat es ihnen wieder Leid, wenn das Wetter im September und Anfang Oktober noch so schön wurde, dass es in der Stadt fast unerträglich öde war. Jedes Jahr stellten sie von neuem fest, dass sie nichts nach New York zurückzog, doch erst in diesem Jahr überwanden sie ihre übliche Trägheit so weit, dass sie beschlossen, nach dem Labor Day noch im Häuschen zu bleiben.
«Es gibt eigentlich gar nichts, was uns in die Stadt zurücktreibt«, sagte Mrs. Allison zu ihrem Mann so ernst, als handelte es sich um eine neue Idee, und er erwiderte ihr, als hätte keiner von beiden es je in Betracht gezogen:
«Dann lass uns doch das Landleben noch so lange wie möglich genießen.« Und so fuhr Mrs. Allison hocherfreut und mit einem etwas abenteuerlichen Gefühl am Tag nach Labor Day in ihr Dorf und erzählte den Ortsansässigen, mit denen sie Umgang pflegte, in der hübschen Manier derjenigen, die von der Tradition abweichen, sie und ihr Mann hätten beschlossen, noch mindestens einen Monat länger in ihrem Sommerhaus zu bleiben.
«Es ist ja nicht so, als müssten wir unbedingt in die Stadt zurück«, sagte sie zu Mr.
Babcock, ihrem Lebensmittelhändler.»Da können wir doch das Landleben genießen, solange es noch geht.« «Nach Labor Day ist noch nie jemand am See geblieben«, sagte Mr.
Babcock. Er packte soeben Mrs. Allisons Einkäufe in einen großen Pappkarton und hielt kurz inne, um nachdenklich in eine Tüte Plätzchen zu spähen.»Niemand«, fügte er hinzu.
«Aber die Stadt!«Über die Stadt sprach Mrs. Allison zu Mr.
Babcock immer in einem Ton, als wäre es Mr. Babcocks Traum, dorthin zu gehen.»Es ist so heiß – Sie haben ja keine Ahnung. Es tut uns immer Leid, wenn wir wegfahren.« «Fahren ungern weg«, sagte Mr. Babcock. Eine der iritierendsten Eigenheiten der Ortsansässigen, die Mrs. Allison aufgefallen waren, bestand darin, eine triviale Bemerkung aufzugreifen und in eine noch banalere Bemerkung umzumünzen.»Würd auch nicht gern wegfahren«, sagte Mr.
Babcock nach reiflicher
Überlegung, woraufhin er und Mrs.
Allison beide lächelten.»Habe aber noch nie gehört, dass jemand nach Labor Day draußen am See geblieben wäre.« «Nun, wir werden es mal ausprobieren«, sagte Mrs.
Allison, und Mr.
Babcock erwiderte bedeutsam:
«Probieren geht über studieren.«
Äußerlich, fand Mrs. Allison jedes Mal, wenn sie nach einem ihrer vagen Gespräche mit Mr. Babcock davonging, äußerlich könnte Mr. Babcock für eine Statue von Daniel Webster, dem amerikanischen Politiker, Modell stehen, aber geistig … schrecklich, wenn man überlegte, wie tief der Typus des guten alten New-England-Yankee gesunken war. Sie sagte etwas in dem Sinn zu Mr. Allison, als sie ins Auto einstieg, und er meinte:»Das sind all die Generationen von Inzucht. Das und das karge Land.« Weil es ihr großer Stadttag war, zu dem sie nur alle zwei Wochen herfuhren, um die Dinge zu kaufen, die sie nicht geliefert bekamen, brachten sie den ganzen Tag damit zu, aßen im Zeitungs- und Getränkeladen ein Sandwich und stapelten die Päckchen hinten im Wagen. Obwohl Mrs. Allison die Lebensmittel auf Bestellung regelmäßig geliefert bekam, war sie nie in der Lage, sich von Mr. Babcocks jeweiligen Vorräten telefonisch ein genaues Bild zu machen, und so wurde ihre Liste von eventuell zu liefernden verschiedenen Kleinigkeiten fast immer über ihre Bedürfnisse hinaus ergänzt durch frisches, einheimisches Gemüse, das Mr.