Auf einem Schriftstellerkongress sagte mir einmal jemand, er wolle zur Übung erst einmal Kriminalromane schreiben und später dann einen» richtigen Roman«. (»Sie fabrizieren also Tacos, bevor Sie sich an selbst gemachten Schokoladenkuchen wagen?«, fragte ich ihn ganz unschuldig.) Eine Journalistin in Deutschland wollte einmal wissen, was ich davon hielte, dass meine Romane nicht in einer bestimmten angesehenen Zeitung rezensiert würden, von der ich noch nie gehört hatte. (»Ach je, keine Ahnung. Die Zeitung hat vermutlich keinen besonderen Einfluss auf die Verkaufszahlen«, erwiderte ich.) Mehrmals sind während der Diskussion nach meinen Vorträgen Leute aufgestanden, um mich zu fragen, wieso «eine Schriftstellerin wie Sie eigentlich keine ernsthaften Romane schreibt«. (»Ich betrachte Kriminalliteratur als ernsthaft«, entgegne ich ihnen.) Und doch hält sich bei manchen Lesern und Kritikern die unterschwellige Ansicht, Kriminalliteratur sei etwas, das man nicht ernst zu nehmen brauche.
Das ist eine bedauerliche Einstellung. Zwar trifft es zu, dass manche Krimis anspruchslos, formelhaft und ohne großen Wert sind, doch lässt sich das auch über andere Veröffentlichungen sagen. Manche Bücher sind gut, manche mittelmäßig und manche ausgesprochen schlecht.
In Wirklichkeit ist es jedoch so, dass ein Großteil der Kriminalliteratur etwas geschafft hat, wovon die etablierte «literarische «Prosa nur träumen kann: Sie hat die Zeiten überdauert. Für jeden Sir Arthur Conan Doyle, dessen Sherlock Holmes über hundert Jahre nach seiner Entstehung immer noch Verehrung und Begeisterung auslöst, gibt es Tausende von Schriftstellern, deren vermeintlich literarisches Werk völlig in Vergessenheit geraten ist. Vor die Wahl gestellt, als» literarische« Autorin etikettiert zu werden und zehn Jahre nachdem ich den Stift für immer weggelegt habe, in der Versenkung zu verschwinden, oder aber» bloß eine Krimiautorin« genannt zu werden, deren Geschichten und Romane noch in hundert Jahren gelesen werden, weiß ich schon, welche Wahl ich treffen würde. Und ich kann nur vermuten, dass jeder vernünftige Autor dieselbe träfe.
Ich bin der Auffassung, Literatur ist das, was Bestand hat. Zu seiner Zeit hätte keiner William Shakespeare bezichtigt, große Literatur zu schreiben. Er war ein beliebter Stückeschreiber, der seine Produktionen mit Figuren bevölkerte, die jedes erdenkliche Bildungs- und Erfahrungsniveau in seinem Publikum befriedigten.
Charles Dickens schrieb Fortsetzungsromane für die Zeitung, und das, so schnell er konnte, um seine sich ständig vergrößernde Familie ernähren zu können. Und Arthur Conan Doyle war ein junger Augenarzt, der sich gerade eine eigene Praxis aufbaute und Detektivromane schrieb, um sich die Zeit zu vertreiben, während er in seiner Sprechstunde auf Patienten wartete. Keiner dieser Schriftsteller hat sich Gedanken über die Unsterblichkeit gemacht. Keiner hat sich beim Schreiben gefragt, ob man sein Werk als Literatur betrachten würde, als kommerzielle Prosa oder als Schund. Jeder von ihnen war darauf bedacht, eine gute Geschichte zu erzählen, sie gekonnt zu erzählen und sie einem Publikum zugänglich zu machen. Alles andere überließen sie — wie alle klugen Männer und Frauen — der Zeit.
Diese Anthologie spiegelt die gleiche Auffassung: zu schreiben, was man schreiben will, und es gut zu schreiben. Einige der Autorinnen haben es getan, sind gestorben und haben eine gewisse Unsterblichkeit erreicht.
Die Übrigen bleiben auf der Erde, schreiben noch und warten ab, wie die Zeit mit ihnen verfahren wird. Allen gemeinsam ist das Verlangen, die Menschen in einer Grenzsituation auszuloten. Diese Grenzsituation entspricht dem begangenen Verbrechen. Wie die Figuren mit der Situation umgehen, davon handelt die Geschichte.
Geschworene von ihresgleichen
von SUSAN GLASPELL
Susan Keating Glaspell (1876–1948) wurde in Davenport/Iowa geboren, studierte an der Drake University und der University of Chicago und arbeitete zunächst als Journalistin, bevor sie sich 1901 ganz der Schriftstellerei widmete. Ihr erster Roman The Glory of the Conquered erschien 1909, 1912 dann ihre erste Sammlung von Erzählungen mit dem Titel Lifted Masks, den größten Ruhm erlangte sie jedoch als Dramatikerin, gipfelnd im umstrittenen Pulitzer-Preis für Alison’s House (1930), ein von Emily Dickinsons Leben inspiriertes Stück. Von 1914 bis 1921 gehörte sie den Provincetown Players an, einer avantgardistischen, von ihrem idealistischen Ehemann George Cram Cook gegründeten Theatertruppe. Zu deren Mitgliedern zählten auch Edna St. Vincent Millay, Djuna Barnes, Edna Ferber, John Reed und ein Autor, der zum bedeutendsten amerikanischen Dramatiker jener Zeit werden sollte — Eugene O’Neill.
Nach einigen frühen Erzählungen — regional gefärbten populären Liebesgeschichten — entwickelte Glaspell unter dem Einfluss ihres Ehemanns und Floyd Dells einen naturalistischeren Ansatz und sozialistische Ansichten. Die Rebellion der Frauen gegen die Dominanz einfältiger Männer war ihr Dauerthema. Auf einem ihrer Stücke, dem Einakter Trifles (1916), basiert ihre berühmteste Erzählung» Geschworene von ihresgleichen«(1917). Es handelt sich zwar unverkennbar um eine Detektivgeschichte — hier sind es übrigens ganz zeitgemäß die Amateure, die viel aufmerksamer beobachten als die professionellen Spürnasen —, allerdings um eine höchst unkonventionelle, einzigartige Detektivgeschichte, in der durch die Art der Aufdeckung ein sehr wichtiges Statement gemacht wird.
Als Martha Hale die Sturmtür aufmachte und ihr der Nordwind schneidend ins Gesicht fuhr, lief sie schnell wieder hinein, um ihren dicken Wollschal zu holen.
Während sie ihn sich hastig um den Kopf wand, ließ sie den Blick schockiert über ihre Küche gleiten. Nichts Gewöhnliches war es, was sie von hier fortrief – wahrscheinlich weiter entfernt vom Gewöhnlichen als alles, was sich im Dickson County je zugetragen hatte.
Doch ihr Blick registrierte bloß die Tatsache, dass sich ihre Küche nicht in einem Zustand befand, in dem man sie zurücklassen konnte: Ihr Brotteig war bereit zum Mischen, das Mehl halb gesiebt, halb ungesiebt.
Sie hasste den Anblick von halbfertigen Dingen. Doch war sie gerade mitten in der Arbeit gewesen, als das Gespann aus der Stadt vorgefahren war, um Mr. Hale abzuholen, und dann kam der Sheriff auch noch hereingerannt und sagte, seine Frau hätte Mrs. Hale gern dabei — wobei er grinsend hinzufügte, sie hätte vermutlich Angst und wollte deshalb noch eine andere Frau mitnehmen. Also hatte sie einfach alles stehen und liegen lassen.
«Martha!«, war nun die ungeduldige Stimme ihres Gatten zu hören.»Lass doch die Leute hier draußen in der Kälte nicht warten.« Sie öffnete wieder die Sturmtür, diesmal um sich zu den drei Männern und der Frau zu gesellen, die in dem geräumigen Einspänner auf sie warteten.
Nachdem sie die wärmenden Decken um sich festgestopft hatte, musterte sie die Frau etwas genauer, die neben ihr auf dem Rücksitz saß. Sie hatte Mrs. Peters im Jahr zuvor auf dem Jahrmarkt kennen gelernt und wusste noch, dass sie überhaupt nicht wie die Frau eines Sheriffs aussah. Sie war klein und schmal und hatte keine kräftige Stimme. Mrs. Gorman, die Frau von Peters’ Vorgänger, hatte eine Stimme, die das Gesetz mit jedem Wort zu untermauern schien. Dass Mrs. Peters nicht wie die Frau eines Sheriffs aussah, machte Peters dadurch wett, dass er wie ein Sheriff aussah. Er war haargenau die Sorte Mann, die zum Sheriff gewählt würde — ein schwergewichtiger Mann mit einer mächtigen Stimme, der sich gesetzestreuen Bürgern gegenüber ausnehmend jovial gab, als wollte er deutlich machen, dass er den Unterschied zwischen Verbrechern und Nicht-Verbrechern kannte.