Und in dem Moment schoss Mrs. Hale der Gedanke durch den Kopf, dass dieser Mann, der hier zu allen so freundlich und aufgeräumt war, in seiner Eigenschaft als Sheriff zu den Wrights fuhr.
«In dieser Jahreszeit ist es auf dem Land nicht besonders angenehm«, ließ Mrs. Peters sich schließlich vernehmen, als hätte sie das Gefühl, sie sollten sich wie die Männer ebenfalls unterhalten.
Mrs. Hale brachte ihre Antwort kaum zu Ende, denn inzwischen waren sie einen kleinen Hügel hinaufgefahren, von dem aus sie das Anwesen der Wrights sehen konnten, und bei dem Anblick war ihr nicht nach Reden zumute. Es sah an diesem kalten Märztag sehr einsam und verlassen aus. Das Gehöft hatte schon immer einsam und verlassen gewirkt. Es lag unten in einer Senke, und auch die Pappeln, die es säumten, sahen einsam und verlassen aus.
Die Männer warfen einen Blick hinüber und sprachen über das, was passiert war. Der Bezirksstaatsanwalt lehnte sich über eine Seite des Einspänners und hielt den Blick unverwandt auf das Haus gerichtet, während sie heranfuhren.
«Ich bin froh, dass Sie mitgekommen sind«, sagte Mrs. Peters nervös, als die beiden Frauen den Männern durch den Hintereingang nach innen folgten.
Als sie den Fuß schon auf der Schwelle und die Hand am Türknauf hatte, verspürte Martha Hale kurz das Gefühl, die Schwelle nicht überschreiten zu können. Der Grund, weshalb sie sie jetzt nicht überschreiten konnte, bestand schlichtweg darin, dass sie sie vorher noch nie überschritten hatte. Immer wieder war es ihr durch den Kopf gegangen:»Ich sollte mal rüber und Minnie Foster besuchen. «Für sie war sie immer noch Minnie Foster, obwohl sie schon seit zwanzig Jahren Mrs. Wright hieß.
Doch es war immer irgendetwas zu tun gewesen, worüber sie Minnie Foster dann wieder vergaß. Jetzt aber konnte sie kommen.
Die Männer gingen zum Herd hinüber. Die Frauen standen dicht nebeneinander an der Tür. Henderson, der junge Bezirksstaatsanwalt, wandte sich um und sagte:
«Kommen Sie doch ans Feuer, meine Damen.« Mrs. Peters tat einen Schritt vorwärts und blieb dann stehen.
«Mir ist nicht — kalt«, sagte sie.
Also blieben die beiden Frauen an der Tür stehen und sahen sich zunächst nicht einmal in der Küche um.
Die Männer redeten erst darüber, wie gut es doch gewesen sei, dass der Sheriff seinen Stellvertreter in der Frühe zum Feuermachen hergeschickt hatte, dann trat Sheriff Peters vom Herd zurück, knöpfte seinen Mantel auf und stützte die Hände auf dem Küchentisch auf, so dass es aussah, als wollte er nun den offiziellen Teil einleiten.»Also, Mr. Hale«, sagte er in halb amtlichem Ton,»bevor wir hier anfangen herumzuräumen, erzählen Sie Mr. Henderson bitte, was genau Sie gesehen haben, als Sie gestern früh hierher kamen.« Der Bezirksstaatsanwalt sah sich in der Küche um.
«Übrigens«, sagte er,»wurde hier irgendetwas verändert?«Er wandte sich an den Sheriff.»Ist alles so, wie Sie es gestern zurückgelassen haben?« Peters blickte vom Küchenschrank zum Spülbecken und von dort zu einem kleinen, durchgesessenen Schaukelstuhl seitlich am Küchentisch hinüber.
«Es ist noch genau so.« «Man hätte gestern jemanden hier postieren sollen«, sagte der Bezirksstaatsanwalt.
«Ach — gestern«, entgegnete der Sheriff mit einer leichten Geste, wie um zu sagen, an gestern wolle er lieber gar nicht mehr denken.
«Da musste ich Frank ins Morris Center schicken wegen dem durchgedrehten Kerl — glauben Sie mir, gestern hatte ich alle Hände voll zu tun. Ich wusste ja, dass Sie bis heute aus Omaha zurück sein könnten, George, und nachdem ich hier alles selbst untersucht hatte …« «Nun, Mr. Hale«, sagte der Bezirksstaatsanwalt, wie um das Thema abzuschließen,»erzählen Sie doch mal genau, was passiert ist, als Sie gestern früh hier ankamen.« Mrs. Hale, die immer noch an der Tür lehnte, bekam vor Aufregung weiche Knie wie eine Mutter, deren Kind gleich etwas aufsagen muss. Lewis kam oft vom Hundertsten ins Tausendste und brachte Sachen durcheinander. Sie hoffte, er würde es direkt und ohne Umschweife erzählen und keine unnötigen Dinge sagen, die es für Minnie Foster nur noch schwerer machten. Er fing nicht gleich an, und ihr fiel auf, dass er merkwürdig aussah — als würde ihm fast schlecht davon, dass er in der Küche stehen und erzählen musste, was er gestern früh dort gesehen hatte.
«Nun, Mr. Hale?«, forderte der Staatsanwalt ihn auf.
«Harry und ich waren mit ’ner Fuhre Kartoffeln auf dem Weg in die Stadt«, begann Mrs. Hales Mann.
Harry war Mrs. Hales Ältester. Er war jetzt nicht dabei, aus dem guten Grund, dass die Kartoffeln gestern nicht in die Stadt gelangt waren und er sie heute früh hinbrachte.
Er war also nicht zu Hause gewesen, als der Sheriff eintraf, um Mr. Hale zu den Wrights mitzunehmen, damit er dem Bezirksstaatswalt seine Geschichte dort erzählte, wo er alles zeigen konnte. Zu Mrs.
Hales anderen Gefühlen gesellte sich nun noch die Sorge, Harry könnte vielleicht nicht warm genug angezogen sein — keiner von ihnen hatte bemerkt, wie scharf dieser Nordwind tatsächlich blies.
«Wir sind die Straße da entlanggekommen«, erzählte Hale soeben mit einer Handbewegung auf die Landstraße, auf der sie gerade hergefahren waren,»und wie wir das Haus sehen, sag ich zu Harry, ›mal schaun, vielleicht kriege ich John Wright dazu, sich ein Telefon anzuschaffen.‹ Wissen Sie, das ist nämlich so«, wandte er sich erklärend an Henderson,»wenn ich keinen dazu kriege, dass er mitmacht, kommen die auch nicht raus auf so ’ne Nebenstraße, oder bloß zu ’nem Preis, den ich mir nicht leisten kann. Ich hatte mit Wright schon mal drüber geredet, aber der hat nichts davon wissen wollen; er hat gemeint, die Leute reden sowieso schon zu viel und dass er seine Ruhe haben will — Sie wissen wahrscheinlich auch, wie viel der selber geredet hat. Aber ich hab mir gedacht, wenn ich ins Haus geh und mit ihm spreche, wenn seine Frau dabei ist, und sage, dass die Frauen doch immer fürs Telefon sind und dass es hier draußen an der abgelegenen Straße doch gut wär — also, zu Harry hab ich gesagt, dass ich vorhätte, das zu sagen — obwohl andererseits hab ich auch gesagt, ich wüsste nicht, ob John viel drauf gäbe, was seine Frau will …« Und schon ging’s wieder los — schon sagte er lauter unnötiges Zeug. Mrs. Hale versuchte, den Blick ihres Mannes aufzufangen, als ihn der Staatsanwalt zum Glück unterbrach:»Darüber reden wir später noch, Mr. Hale. Ich will schon noch darüber sprechen, aber jetzt liegt mir doch daran zu hören, was passiert ist, als Sie hier ankamen.« Als er diesmal anfing, klang es entschlossen und wohl überlegt:»Ich hab nichts gesehen oder gehört. Ich hab angeklopft, aber drinnen war alles still. Dass sie auf sein mussten, wusste ich — es war ja schon nach acht. Also hab ich noch mal geklopft, lauter diesmal, und glaubte, ich hörte jemand ›Herein‹ sagen. Ich war mir nicht sicher – bin ich mir immer noch nicht. Ich hab aber die Tür aufgemacht — die Tür da«— er deutete energisch auf die Tür, neben der die beiden Frauen standen —,»und da drüben, in dem Schaukelstuhl«— er deutete hin —»saß Mrs. Wright.« Alle Anwesenden blickten auf den Schaukelstuhl.
Mrs. Hale kam der Gedanke, dass dieser Schaukelstuhl eigentlich überhaupt nicht zu Minnie Foster passte — zu der Minnie Foster von vor zwanzig Jahren. Er war schmutzig rot und hatte Holzstreben in der Rückenlehne, die mittlere Strebe fehlte, und der Sitz hing auf einer Seite herunter.
«Wie sah sie — denn aus?«, wollte der Staatsanwalt wissen.
«Hm«, sagte Hale,»ziemlich komisch.« «Komisch? Wie meinen Sie das?« Während er fragte, zog er Notizblock und Bleistift hervor. Der Anblick des Bleistifts behagte Mrs. Hale ganz und gar nicht. Sie hielt den Blick starr auf ihren Gatten geheftet, als wollte sie ihn davon abhalten, unnötige Dinge zu sagen, die auf den Notizblock gelangen und Ärger machen würden.