Sie hielt inne, als ob sie zuviel gesagt habe.
„Nun, und?“ fragte er.
„Oh, es ist nicht meine Art und Weise, das zu wiederholen, was meine Gäste sprechen. Ich in Ihrer Stelle würde mich nicht allzu lange in dieser Gegend verweilen.“
„Waren das alle Personen, von denen zu sprechen war, Madame?“
„Ich könnte vielleicht noch das gnädige Fräulein erwähnen, aber sie ist längere Zeit nicht anwesend gewesen. Sie ist in England. Man sagt, daß sie der Liebling des Vaters sei, während sie von ihrer Stiefmutter gehaßt werde. Sie ist eine gute Dame, nicht stolz, gar nicht. Sie besucht die Armen und Kranken und hilft, wo sie nur helfen kann. Ihre Mutter soll ein Engel an Schönheit, Güte und Milde gewesen sein. Sie ist an gebrochenem Herzen gestorben; warum, das weiß man nicht. Man hat sie hart an der Mauer des alten Turms begraben, weil sie eine Heidin war.“
„Eine Heidin, wie meinen Sie das?“
„Nun, der Baron hat sie von sehr weit hergebracht, von dort, wo es Tiger und Löwen gibt. Sie hat keine Christin werden wollen, und darum ist ihr auch die geweihte Erde versagt worden. Nun liegt sie im Wald begraben und geht des Nachts im alten Turm um.“
„Ah! Hat man sie vielleicht gesehen?“ fragte Müller.
„Gesehen? Ob man sie gesehen hat!“ rief die Frau, ganz erstaunt über eine solche Frage. „Gesehen und gehört hat man sie! Sie geht durch den Wald, im weißen Kleid, wie sie auch früher stets gegangen ist, und hundert Irrlichter tanzen um sie her. Dann verschwindet sie im Turm und erscheint oben auf der Zinne desselben. Und wenn sie da fort ist, dann hört man unter der Erde ein Klirren und Klingen, als ob tausend Geister mit Ketten rasselten. Es wagt kein Mensch, des Nachts zum Turm zu gehen.“
„Wenn niemand hingeht, wer hat dann diese Erscheinungen beobachtet?“
„Der vorige Förster. Als er angestellt wurde, war er ein junger, mutiger Mann; er glaubte nicht an Geister und Gespenster und schlich sich in den Wald, um die Erscheinungen zu untersuchen. Er hat nach den Lichtern geschossen, aber nichts getroffen. Er wurde darauf entlassen, weil er die Ruhe der seligen Baronin entweiht hat.“
Müller schüttelte den Kopf. Diese Erzählung war jedenfalls nicht ganz aus der Luft gegriffen; etwas Wahres mußte daran sein, wenn auch der Kern in Dichtung eingehüllt war. Es schien ihm ganz so, als ob er einer höchst interessanten Zukunft entgegengehe.
Die Wirtin kehrte, nachdem sie ihrer Redseligkeit Genüge getan hatte, nach der Küche zurück, und Müller brach auf, um nach Ortry zu wandern.
Die Sonne schien warm vom Himmel herab, und darum schritt der Doktor nur langsam vorwärts. Es war ihm keine Zeit gestellt und so blieb es sich ja ganz gleich, ob er eine Stunde früher oder später an seinem Bestimmungsort anlangte.
Er kannte die Richtung, in welcher dieser liegen mußte, und er hielt dieselbe ein, ohne sich nach dem eigentlichen, richtigen Weg zu erkundigen. Es liegt etwas Verführerisches darin, den Schritt ganz nach dem Gutdünken lenken zu können, und Müller gab diesem Reiz zur Genüge nach, so daß er schließlich bemerkte, daß sich der Weg, dem er bisher gefolgt war, in einem Wäldchen verlief.
Ohne sich Sorge zu machen, schlenderte er durch dasselbe hindurch, schritt über eine Wiese hinüber und gelangte an einen großen Steinbruch, dessen hohe, steil emporsteigende Wände ihm ein unüberwindliches Hindernis entgegenstellten. Darum kletterte er an der Seite des Bruches empor und wunderte sich, daß der Rand dieses gefährlichen Abgrundes nicht mit einer Barriere versehen war. Da oben lagen Felder, welche hart an die scharfe Kante der Felsen heranreichten. Wie nun, wenn beim Ackern oder Eggen ein Pferd scheu wurde und den Mann samt dem Geschirr da hinunter in die gähnende Tiefe riß?
Er war sich dieses schwindelerregenden Gedankens kaum bewußt geworden, so stieß er einen Ruf des Schreckens aus. Ein lauter Schrei hatte ihn veranlaßt, seitwärts hinüber zu blicken, wo Arbeiter auf einem Feld beschäftigt waren. Von dort her kam ein kleiner, leichter Wagen, vor welchen ein Pony gespannt war, in voller Karriere herangesaust. Ein Knabe saß auf dem Bock; er hatte die Zügel verloren und hielt sich krampfhaft fest, um nicht herabzufallen.
Das Pferd galoppierte gerade auf den Steinbruch zu. Es war verloren: es konnte nicht aufgehalten werden; keine Menschenkraft war stark genug, den Galopp des Tieres zu mindern, bevor es den Abgrund erreichte. Müller versuchte es dennoch. Er sprang am Rand des Felsens entlang, aber er hatte nicht die Schnelligkeit des Pferdes. Noch war es höchstens zehn Schritte vom Abgrund entfernt, da erreichte er den Wagen, dem er schräg entgegengeflogen war. Konnte denn nicht wenigstens der Knabe gerettet werden? Müller hatte seine Kaltblütigkeit keinen Augenblick verloren. Er stemmte sich mit dem einen Fuß fest, und während der Wagen an ihm vorübersauste, streckte er den Arm nach dem Bock aus, faßte den Knaben, der mit vor Angst weit offenen Augen in die Leere starrte, und riß ihn herab. Im nächsten Augenblick flogen Pferd und Wagen in einem weiten Bogen über die Kante des Abgrundes hinaus und in die Tiefe hinab, wobei Müller nun erst bemerkte, daß sich noch eine menschliche Gestalt im Wagen befand, welche sich vor Schreck auf dem Boden zusammengekauert hatte. Von unten herauf erscholl ein dumpfer Krach; dann war alles vorbei.
Der Knabe lag ohnmächtig am Boden. Seiner feinen Kleidung nach war er jedenfalls das Kind nicht gewöhnlicher Eltern. Während Müller sich um ihn bemühte, kamen die Feldarbeiter herbei, deren Ruf ihn erst aufmerksam gemacht hatte.
„Welch ein Glück, daß Sie ihn herunterrissen!“ rief der eine bereits von weitem. „Es ist der junge Herr!“
„Welcher junge Herr?“ fragte Müller.
„Der Herr Baron.“
Die Leute bückten sich zu Alexander nieder; sie mochten ihn für tot halten.
„Er lebt“, meinte Müller. „Er ist nur ohnmächtig. Welchen Baron meinen Sie?“
„Den Baron von Sainte-Marie. Ah, das wird eine gute Belohnung geben. Greift zu, damit wir ihn auf das Schloß schaffen!“
Sie faßten an und trugen den Knaben fort. Müller ließ sie gehen; er lächelte darüber, daß sie um des Lohnes willen sich gar nicht um sein besseres Recht bekümmerten. Er kehrte um und stieg wieder in den Steinbruch zurück. Als er da unten ankam, bot sich ihm ein schauderhafter Anblick. Der Wagen lag, in kleine Stücke zerschmettert, auf dem toten Pferd, welches eine weiche, formlose Masse bildete, und ein Stück weiter hin lag der Groom, ebenfalls bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Hier war nichts zu tun. Müller brauchte sich um eine Anmeldung und weitere Verfolgung des Falles nicht zu bekümmern; er wußte, daß dies von anderer Seite geschehen werde, und schlenderte also Ortry langsam entgegen. –
Dort war mittlerweile die Zeit des zweiten Frühstückes angebrochen, und die Glieder der Familie waren im Speisesaale an der Tafel versammelt. Es war bei dieser Gelegenheit recht deutlich zu sehen, daß diese Leute in keinem innigen seelischen Zusammenhang miteinander standen. Die einzelnen Personen kamen ganz nach Belieben herbei und nahmen mit einem stummen Gruß an der Tafel Platz. Die Baronin präsidierte; der Kapitän beachtete sie kaum mit einem Blick, und der Baron saß wie abwesend dabei und aß mit einem Gesichtsausdrucke, als wisse er überhaupt gar nicht, daß und was er esse. Nur nach längerer Zeit, als der junge Herr sich noch immer nicht eingestellt hatte, fragte der Kapitän:
„Wo bleibt Alexander?“
„Der junge gnädige Herr ist ausgefahren“, antwortete einer der Diener.
Nun folgte wieder dieselbe Stille und Wertlosigkeit wie bisher, bis man an den Schluß des Frühstücks angekommen war. Da vernahm man unten vom Hof herauf laute, erschrockene Stimmen. Der Kapitän trat an das Fenster und sah nur noch einige fremde Leute, welche, etwas tragend, im Eingang verschwanden.