„Was ist's?“ fragte die Baronin, indem sie sich erheben wollte.
„Warten Sie, ich werde nachsehen!“ sagte der Alte, dem eine Ahnung kam, daß die Last, welche diese Leute getragen hatten, eine menschliche Person gewesen sei.
Er schritt hinaus und begegnete ihnen auf der Treppe. Als sie ihn erblickten, hielten sie respektvoll an. In Gegenwart dieses Mannes wagte keiner, unaufgefordert ein Wort zu sprechen. Der Kapitän trat hinzu und erkannte Alexander. Seinen Liebling tot oder besinnungslos zu sehen, kam ihm unerwartet und mußte ihn tief ergreifen; aber es zuckte dennoch keine Miene seines eisernen Gesichts, als er in ruhigem Ton fragte:
„Was ist mit ihm?“
„Er ist nicht tot, gnädiger Herr“, sagte einer von den Leuten, „sondern nur ohnmächtig. Der Fremde sagte es, der ihn untersucht hatte.“
„Welcher Fremde?“
„Der ihn vom Wagen riß, als das Pferd durchgegangen war und mit dem Wagen in den Steinbruch stürzte.“
Des Alten äußere Augenwinkel legten sich nach den Schläfen hin in tiefe Falten, dies war das einzige Zeichen seines Schrecks. Er drehte sich zu einem der dabei stehenden Reitknechte und befahl diesem:
„Anspannen! Im Galopp nach Thionville, um Doktor Bertrand zu holen!“
Dann ließ er sich den Fall ausführlich erzählen. Er fragte, wer der Fremde gewesen sei, konnte aber keine Auskunft erhalten. Die Leute hatten den Mann, um nur mit dem jungen Herrn so eilig wie möglich fort zu kommen, gar nicht so genau betrachtet.
„Er wird sich jedenfalls melden“, brummte der Kapitän. „Eine Belohnung läßt sich keiner entgehen. Folgt mir!“
Er ließ Alexander einstweilen nach dem nächsten Raum tragen. Es war der Empfangssalon. Dann kehrte er nach dem Speisesaal zurück und sagte in gleichgültigem Ton:
„Alexander ist unwohl.“
„Unwohl?“ fragte die Baronin schnell. „Was fehlt ihm?“
„Er hat ein kleines Malheur gehabt. Das Pferd ist ihm durchgegangen.“
„Oh, mein Gott!“ rief die Dame, vor Schreck emporspringend.
„Und in den tiefen Steinbruch da unten gestürzt. Jedenfalls sind Pferd und Wagen vollständig zerschmettert“, fuhr er fort.
Sie mußte sich am Tisch anhalten, sonst wäre sie vor Schreck umgesunken.
„Und Alexander, mein Kind, mein Sohn?“ fragte sie todesbleich.
„Er ist gerettet. Leute brachten ihn. Er liegt im Empfangszimmer.“
Sie nahm sich zusammen und wankte nach der Tür. Der Alte folgte ihr. Auch der Baron verließ seinen Sessel, strich sich über die wächserne Stirn, als ob er sich erst besinnen müsse, wer dieser Alexander eigentlich sei, und ging den Vorausgegangenen dann langsamen Schrittes nach.
Der Knabe lag ausgestreckt auf dem Diwan. Er hielt die Augen geöffnet. Die Besinnung schien ihm zurückzukehren. Die Feldarbeiter standen noch an der Tür. Der Kapitän entließ sie, nachdem er sie beschenkt hatte.
Die Baronin kniete vor dem Diwan nieder, nahm den Kopf ihres Sohnes in den Arm und betrachtete den Ohnmächtigen schluchzend. Der Alte ergriff ihn bei der Hand, um nach dem Puls zu fühlen, und Herr de Sainte-Marie stand vor einem Bild und hielt den Blick so starr und nachhaltig auf dasselbe gerichtet, als ob es sonst keinen Gegenstand geben könne, der seine Aufmerksamkeit in Anspruch nähme. Es war sicher, daß er geistig gestört war.
„Mama, liebe Mama!“ flüsterte da endlich die Stimme des Erwachenden.
„Mein Sohn, mein Alexander!“ rief sie. „Wie befindest du dich?“
„Ich bin sehr matt; aber es war auch gar zu schrecklich!“
„Wir werden dich nach deinem Zimmer schaffen.“
„Nein“, bat er. „Ich will nicht fort; ich bin müde; ich muß schlafen!“
Er schloß die Augen wieder. Die Baronin erhob den tränenvollen Blick und sah den Kapitän fragend an. Dieser nickte zustimmend, daß der Knabe liegen bleiben solle. Der Baron trat jetzt langsam hinzu, ließ seine Augen irr über den Daliegenden schweifen und sagte dann mit einem matten Lächeln:
„Alexander!“
Dann drehte er sich um und schritt zur Tür hinaus. Die beiden anderen setzten sich an dem Diwan nieder, um die Ankunft des Arztes zu erwarten. Sie liebten den Knaben, dies war aber auch die einzige Harmonie, welche es zwischen ihnen gab. Sie haßte den Kapitän, und er verachtete sie. Sie wußten dies gegenseitig, sie verhehlten es sich nicht. Der in Apathie versunkene Baron, der sein Sohn und ihr Gemahl war, konnte nicht als aussöhnendes Medium gelten, und da die Dienerschaft dies ebensogut wußte, wie die Herrschaft selbst, so war es allen ein Rätsel, aus welchem Grund der Alte eigentlich zugegeben hatte, daß die Baronin Gemahlin seines Sohnes werde.
Endlich nahten Schritte, und der Arzt trat ein; aber es war nicht Doktor Bertrand, sondern ein anderer, den der Kapitän wohl kannte, aber noch nicht bei sich gesehen hatte.
„Warum kommen Sie?“ fragte der Alte im rücksichtslosen Ton. „Ich habe nicht nach Ihnen, sondern nach unserem Hausarzte geschickt.“
„Verzeihung, Herr Kapitän, gnädige Frau“, entschuldigte sich der Arzt. „Doktor Bertrand ist verreist und hat mich gebeten, ihn nötigenfalls zu vertreten.“
„Wann kommt er zurück!“
Der Gefragte zuckte die Achseln und antwortete:
„Es fragt sich leider sehr, ob er überhaupt wieder zurückkehren wird. Vielleicht ist er tot.“
„Tot? Wieso?“
„Ertrunken meine ich, gnädiger Herr. Die heutigen Morgenblätter bringen die schreckliche Nachricht, daß der gestrige Moseldampfer unterhalb Thron mit Mann und Maus untergegangen ist. Es hat ein schreckliches Unwetter, einen in dieser Stärke noch gar nicht dagewesenen Orkan gegeben, während dessen der Dampfer mit einem Floß kollidierte. Ich weiß genau, daß Doktor Bertrand auf diesem Dampfer zurückkehren wollte.“
Da stand der Kapitän von seinem Stuhl auf, trat auf den Arzt zu und fragte mit einer Stimme, der man doch ein leises Beben anhören konnte:
„Ist dieses Unglück wirklich ein Faktum? Ist die Nachricht verbürgt?“
„Ja. Die jenseitige Behörde fordert bereits zu Sammlungen für die Hinterbliebenen der Verunglückten auf.“
„Dann haben Sie uns eine schlimme Nachricht gebracht. Meine Enkelin, Baronesse Marion, hat sich auch auf diesem Dampfer befunden. Ich erhielt gestern von Koblenz aus ihren Brief, in welchem sie mir dies mitteilte, um mir ihre Ankunft für den heutigen Tag zu melden.“
Der innere Zusammenhang fehlte den Bewohnern von Schloß Ortry so sehr, daß der Alte den Inhalt des Briefes gar niemand mitgeteilt hatte. Kam Marion, so war sie einfach da; das war aber auch alles. Die Baronin hörte also jetzt das erste Wort davon. Sie zuckte zusammen, gab sich aber Mühe, ihre Gefühle zu verbergen, und fragte im Ton der Besorgnis:
„Wie? Unsere liebe Marion befand sich auf dem verunglückten Schiff? Mein Heiland, zwei Unfälle auf einmal! Wer soll dies ertragen!“
Sie schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen und gab sich den Anschein, als ob sie weine. Der Kapitän wandte sich zu ihr um und sagte:
„Verlieren wir die Hoffnung nicht, Frau Tochter! Es ist ja noch immer die Möglichkeit vorhanden, daß einige gerettet worden sind, oder daß ein glücklicher Zufall sie abgehalten hat, dieses Dampfschiff zu besteigen. Untersuchen Sie den Knaben, Doktor!“
Seine Worte hatten, der Gegenwart des Arztes wegen, einen ergriffenen, teilnahmsvollen Ton; in seinem Blick jedoch lag ein Ausdruck, welcher deutlich sagte, daß er sehr wohl wisse, daß jene sich innig freuen würde, ihre Stieftochter unter den Toten zu wissen.
Der Doktor näherte sich nun dem Diwan, um Alexander zu untersuchen, wobei ihm der Alte den Hergang mit kurzen Worten erzählte.
„Es hat nichts zu sagen“, erklärte der Arzt dann. „Der junge Herr ist völlig unverletzt. Er wird sich bei einiger Ruhe schnell erholen. Vielleicht haben Sie die Güte, nach Thionville wegen der Arznei zu senden, welche ich verschreiben werde. Ich wünsche von Herzen, daß die gnädige Baronesse sich ebenso aus aller Gefahr befinden möge, wie dieser Patient.“