Er schrieb ein Rezept, übergab dasselbe und empfahl sich dann. Er hatte den Salon kaum verlassen, so trat mit leisen Schritten ein Diener ein.
„Was gibt es?“ fragte der Kapitän.
„Der neue Erzieher ist soeben angekommen, gnädiger Herr, und hat mich gebeten, ihn anzumelden.“
„Ah! Was ist er für ein Mann? Wie präsentiert er sich?“
Der Diener zuckte mit einem leisen, zweideutigen Lächeln die Achseln und schwieg.
„Ich verstehe“, meinte der Alte. „Wenn er mir nicht paßt, jage ich ihn wieder fort. Er mag eintreten, obgleich wir eigentlich nicht in der Lage sind, ihn hier und jetzt zu empfangen. Aber auf einen deutschen Schulmeister braucht man keine Rücksicht zu nehmen. Sage ihm, daß sich ein Patient hier befindet. Der Mann mag leise eintreten.“
Der Diener entfernte sich und ließ Müller ein, nachdem er ihm die soeben erlangte Weisung erteilt hatte.
Müller verbeugte sich tief und respektvoll und wartete, daß man ihn anreden werde. Der Blick der Baronin ruhte mit einem beinahe erschrockenen Ausdruck auf ihm.
„Ah, das ist ja geradezu eine Beleidigung!“ hauchte sie.
Der Kapitän betrachtete den neuen Lehrer mit mitleidigem Hohn und sagte rücksichtslos:
„Herr, Sie sind ja bucklig!“
„Leider“, antwortete Müller sehr ruhig. „Aber ich hoffe trotzdem, Ihre Zufriedenheit zu erlangen. Die Gestalt ist es ja nicht, mit welcher man Kinder erzieht.“
Der Alte machte eine verächtliche, zurückweisende Handbewegung und sagte kalt:
„Aber die Gestalt ist es, welche den ersten und letzten Eindruck macht. Wie soll mein Enkel Sie achten und Respekt vor Ihnen haben! Glauben Sie, daß wir die Absicht haben, uns mit einem verwachsenen Erzieher zu blamieren. Sie sind entlassen, definitiv entlassen. Begeben Sie sich in das Gesindezimmer. Ich werde Ihnen das Reisegeld auszahlen lassen. Mehr können Sie nicht verlangen, daß wir mit Ihnen getäuscht, ja sogar betrogen worden sind.“
„Gnädiger Herr Kapitän, ich bitte, zu bedenken, daß –“
„Gehen Sie. Sofort!“
Diese Worte wurden zornig und so laut gesprochen, daß der Knabe erwachte. Sein Blick fiel auf den Deutschen, und er sagte, zu seiner Mutter gewendet:
„Mama, das ist der Mann, der mich gerade vor dem Abgrund aus dem Wagen riß.“
Er hatte seinen Retter also doch trotz seines angstvoll starren Blicks so deutlich gesehen, daß er ihn jetzt wieder erkannte. Die Baronin machte eine Bewegung der Überraschung. Der Kapitän trat einen Schritt näher und fragte Müller:
„Ist das wahr? Sie sind der Retter meines Enkels?“
„Ich hatte allerdings das Glück, den gnädigen Herrn noch im letzten Augenblick vom Bock zu reißen. Wagen und Pferd nebst einem armen Menschen, welcher der Groom gewesen zu sein scheint, fand ich dann in der Tiefe bis zur Unkenntlichkeit zerschmettert.“
„Ah, an den Groom habe ich noch gar nicht gedacht. Er ist also tot? Das ist seine eigene Schuld. Er ist nicht zu bedauern. Er hätte vorsichtiger fahren sollen. Lebte er noch, so würde ich ihn streng bestrafen. Was aber Sie betrifft, Herr – Herr Müller, hm!“
Er warf bei diesem ‚hm‘ einen fragenden Blick auf die Baronin. Diese verstand ihn und sagte:
„Es steht außer allem Zweifel, daß wir Herrn Müller Dank schulden, Herr Kapitän. Jedoch –“
Sie zuckte die Achsel; es lag trotz der anerkannten Verpflichtung zur Dankbarkeit doch ein Einwand, ein Bedenken nahe. Da ließ sich die Stimme Alexanders hören:
„Wer ist der Mann, Mama?“
„Es ist Monsieur Müller, welcher dein Lehrer werden sollte“, antwortete sie.
„Das ist schön“, sagte er. „Ich freue mich auf ihn.“
Alexanders beide Verwandte blickten einander an. Es war ja noch nie geschehen, daß er sich auf einen Lehrer oder Erzieher gefreut hatte.
„Aber siehe ihn doch an“, meinte seine Mutter. „Er ist ja – häßlich.“
Sie scheute sich doch, das richtige Wort zu wählen, welches der Alte vorhin so ganz ohne Bedenken ausgesprochen hatte. Da antwortete Alexander in jenem hohen, ungeduldigen Ton, welche kranke oder verzogene Kinder, wenn sie ihren Willen durchsetzen wollen, anzuschlagen pflegen:
„Ich finde ihn sehr hübsch, Mama; ich mag keinen anderen.“
„Nun, so möchten wir vielleicht einen Versuch wagen?“ fragte die Baronin, zu dem Kapitän gewendet.
Dieser nickte langsam und bedächtig und fragte Müller:
„Haben Sie Ihre Zeugnisse bei sich, Monsieur?“
„Hier, gnädiger Herr.“
Bei diesen Worten zog der Lehrer seine Papiere hervor und überreichte sie dem Frager. Es waren dieselben, welche ihm der General in Simmern übergeben hatte. Der Alte las eins nach dem anderen aufmerksam durch und sagte kopfschüttelnd:
„Sie haben da allerdings ganz ausgezeichnete Zensuren; aber ich finde nur Dogmatik, Didaktik, Methodik, Geschichte, Geographie, Sprachen und so weiter. Man scheint in Ihrem Vaterland keinen großen Wert auf die Ausbildung des äußeren Menschen zu legen. Tanzen Sie?“
„Ich bin noch von keiner Dame abgewiesen worden, gnädiger Herr“, antwortete Müller.
Der Alte lächelte ein wenig hämisch und bemerkte:
„Ich habe da nicht Schulmeisterstöchter oder Schneidersfrauen im Auge, sondern ich meine natürlich wirkliche Damen. Doch, man wird ja sehen. Wie steht es mit dem Turnen und Reiten?“
„Ich glaube, Ihren Ansprüchen genügen zu können.“
„Schießen, Fechten?“
„Ich hatte gute Lehrer und hinreichende Übung.“
„Hm. Wenn ich Sie nun auf die Probe stelle? Ich fechte leidenschaftlich gern.“
„Ich stelle mich zur Verfügung, gnädiger Herr.“
Alle diese Antworten waren in einem bescheidenen, anspruchslosen Ton gegeben worden. Der Alte richtete seine dunklen Augen mit einem höchst ungläubigen Ausdruck auf den Lehrer und sagte:
„Nun, ich werde Sie prüfen. Machen Sie Ihren Worten Ehre, so sollen Sie angestellt werden. Jetzt gehen Sie zum Hausmeister, um sich das Zimmer anweisen zu lassen, welches man für Sie bestimmt hat. Ich hoffe, Sie stehen zur Verfügung, sobald ich Ihrer bedarf.“
Somit war die Vorstellung beendet. Müller trat zu dem Kranken, faßte leise die Hand desselben und sagte:
„Haben Sie Dank für Ihre freundliche Fürsprache, gnädiger Herr. Sie haben sich dadurch sehr schnell meine Liebe erworben, und ich werde gern mein möglichstes tun, auch die Ihrige zu erhalten, so daß wir Erfolge erringen, welche eines Sainte-Marie würdig sind.“
Er verbeugte sich vor den beiden anderen Anwesenden und entfernte sich. Der Kapitän blicke ihm nach und sagte dann im Ton halber Verwunderung:
„Das war sehr schön gesprochen; das hat noch keiner gesagt. Er scheint sehr gut zu wissen, was man einem hervorragenden Namen schuldig ist.“
Und die Baronin antwortete:
„Seine Verbeugung war höchst elegant, zwar ein wenig selbstbewußt, aber dennoch ehrerbietig und völlig tadellos. Man wird ihn kennen lernen, um zu sehen, ob er, trotz seiner Mißgestalt, zu brauchen ist.“ –
Müller ließ sich zu dem Hausmeister weisen. Er erkannte in demselben auf den ersten Blick den echten, eingefleischten Franzosen. Er trug schwarzen Frack nebst ebensolcher Hose, weißseidene Weste und ein weißes, hoch emporgehendes Halstuch. Seine breiten, kurzen Füße staken in so engen Lackstiefeln, daß sein Gang und seine Haltung in Folge des Drucks etwas Unsicheres zeigten.
„Ah, Sie? Sie sind der neue Gouverneur?“ fragte er in hochmütigem Ton. Und mit einem vielsagenden Lächeln fügte er hinzu:
„Ist diese Gestalt in Deutschland vielleicht einheimisch?“