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„Wohl nicht“, antwortete Müller gleichmütig, „ich bin glücklicherweise eine Ausnahme und hoffe, daß Sie gewandt genug sind, mit dem, was Ihnen an meinem Körper zu viel erscheint, nicht allzu oft zu karambolieren. Ich komme, Sie zu bitten, mir mein Zimmer anzuweisen.“

„Das werde ich tun. Im übrigen jedoch mache ich Sie darauf aufmerksam, daß ich nicht vorhanden bin, Sie zu bedienen. Als Hausmeister bin ich Ihr Vorgesetzter.“

„Das ist mir ganz und gar nicht unangenehm, und ich ersuche Sie, sich bei mir nach Kräften in Respekt zu setzen. In meiner Heimat pflegt man nur diejenigen als Obere anzuerkennen, welche es auch wirklich verstehen, sich Hochachtung zu erwerben. Darf ich bitten, monsieur le concierge?“

Er wandte sich, um voranzuschreiten; der Franzose aber fiel schnell ein:

„Sie sprechen ein sehr schlechtes Französisch, Herr Müller. Concierge bedeutet mehr Türhüter, als Hausmeister. Sie haben mich Intendant zu nennen!“

„Sehr wohl, Herr Intendant. Also bitte, mein Zimmer.“

Sie schritten an mehreren dienstbaren Geistern vorüber, welche beim Anblick des Lehrers mit echt französischer Ungeniertheit die Nasen rümpften, worauf jedoch Müller nicht im geringsten achtete. Er wurde mehrere Treppen emporgeführt, und der Hausmeister öffnete ihm ein Zimmer, welches hoch oben in einem der Türmchen lag, von denen die Front des Schlosses flankiert wurde. Es war mit der größten Einfachheit möbliert.

„So, hier wohnen Sie“, meinte der Hausmeister schadenfroh. „Tisch, zwei Stühle, Feldbett, Waschzeug, Bücherregal; eine Taschenuhr besitzen Sie wohl selbst. Das ist mehr als genug, um sich komfortabel zu fühlen.“

„Wo wohnt der junge Herr?“ fragte Müller.

„In der Hauptetage neben der gnädigen Frau.“

„Man pflegt sonst doch den Erzieher in die unmittelbare Nähe seines Zöglings zu plazieren, Herr Intendant!“

„Das ist hier nie der Fall gewesen. Der Lehrer rangiert hier erst nach dem Koch, und da ist leicht einzusehen, daß er dementsprechend einlogiert werden muß. Der Koch wohnt gerade unter Ihnen, nicht aber in der unmittelbaren Nähe der Herrschaft.“

„Es ist gut, Herr Intendant!“

Mit diesen Worten drehte er sich ab, und der Hausmeister zog sich zurück, sehr zufrieden mit sich, daß er diesem Deutschen gleich im ersten Augenblick klargemacht habe, welchen Rang er hier einnehme.

Müller warf keinen Blick auf das armselige Meublement. Er trat an eines der drei Fenster und blickte hinaus. Ein leises Lächeln schwebte um seine Lippen. Er war mit dem ihm gewordenen Empfang nicht unzufrieden. Das Glück hatte ihm beigestanden, und er hoffte, daß es ihm auch treu bleiben werde. Die Arroganz des Dienstpersonals konnte ihn nicht beleidigen, und als Retter Alexanders hatte er sich die Dankbarkeit der Herrschaft gesichert. Diese Dankbarkeit mußte sich bei der Ankunft Marions steigern. Was aber dann? Er machte sich keine Grillen über diese Frage und blickte wohlgemut hinaus auf das Bild, welches sich vor seinem Auge ausbreitete.

Fern im Westen erhoben sich die Höhen der Meuse, überragt von den duftumhauchten Bergen des Argonner Waldes. Näher blickten Kirchtürme und lieblich gelagerte Ortschaften zu ihm herüber; da rechts lag Thionville, auf deutsch Diedenhofen genannt, die Festung, jetzt in den Händen des Erzfeindes; und dort, unterhalb des Schlosses, erhoben sich die schmutzigen Essen und Gebäude des Eisenwerks, über denen eine dichte Rauchwolke schwebte.

Das andere Fenster ging nach Süden, wo der Park des Schlosses sich nach und nach zu einem dunklen Wald verdichtete. Das dritte Fenster führte nach Norden, und zwar auf das halbplatte Dach des Hauptgebäudes. Müller ahnte nicht, daß dieser Umstand ihm später außerordentlich zustatten kommen werde. Die vierte, also östliche Seite seines Zimmers, hatte kein Fenster. Sie bestand aus einer Tapetenwand, an welcher nur ein alter, schlechter Spiegel hing.

Indem sein Blick diese Wand überflog, war es ihm, als ob er ein leises, eigentümliches Geräusch bemerkte. Er trat hart an die Mauer heran und horchte. Ja, er hatte richtig gehört. Es war, als ob hinter der Wand jemand sich bewege, und zwar aufwärts, und dabei mit der Hand tastend an den Steinen oder Ziegeln hinstreiche. Sodann war ein leichtes Rascheln zu vernehmen, als ob ein Stein aus der Mauer entfernt werde.

Was war das? Gab es hier vielleicht eine Doppelwand? Befand sich hinter dem Zimmer jemand, welcher gekommen war, ihn zu belauschen? In diesem Fall mußte sich in der Mauer eine Öffnung befinden. Aber Müller durfte jetzt nicht suchen; er mußte vielmehr so tun, als ob er ganz und gar nichts ahne. Das Schloß war ein sehr altes Gebäude, es konnte leicht seine Geheimnisse haben.

Müller trat zu dem Fenster zurück und tat so, als ob er in den Anblick der Landschaft ganz und gar versunken sei. Dabei aber lauschte er angestrengt nach der Mauer hin. Als sich nach längerer Weile nichts vernehmen ließ, wurde er des Stehens müde und legte sich auf das Feldbett, um weiter zu horchen.

Da, jetzt hörte er, sehr leise zwar, aber immer noch vernehmlich, jenes letzte Rascheln wieder. Es schien oben in der Nähe der Decke zu sein. Dann strich es wie mit einer vorsichtig tastenden Hand an der Wand herab, bis er, selbst nach langem Horchen, nichts mehr hörte.

Jetzt erhob er sich und öffnete das nach Norden auf das Dach führende Fenster. Er hatte weder einen Stock noch einen anderen Gegenstand, welchen er als Maß zu gebrauchen vermochte.

Als Müller den Abstand zwischen dem Fenster und der Außenecke des Turmes mit demjenigen der innern Ecke seiner Stube verglich, sagte ihm bereits das bloße Augenmaß, daß die Mauer des Turms wenigstens zwei Ellen dick sein müsse. Und als er behutsam an diese Mauer klopfte, hörte er aus dem Ton, daß sie vielleicht nur einen Fuß stark sei.

Es war also klar, daß es hier eine Doppelmauer gab. Wozu? Welchem Zweck diente der dazwischen liegende Raum? Doch wohl nur dem Lauschen und Beobachten!

Wo aber war das Loch, durch welches man in das Zimmer sehen konnte? Er musterte die ganze Wandfläche; er blickte sogar hinter den Spiegel; er bemerkte nichts. Die betreffende Öffnung konnte sich nur in der Nähe des Ofenrohres oder in der gemalten Kante der Mauer befinden, das war klar.

Er setzte sich einen Stuhl hin, stieg hinauf und klopfte, doch nicht auffällig. Richtig, an dieser Stelle gab die Kante einen ganz anderen Ton. Sie fühlte sich auch glatter an als an den übrigen Stellen; sie bestand aus Glas. Er hegte jetzt die feste Überzeugung, daß er beobachtet worden sei. Aber von wem? Gab es im Schloß noch mehrere Doppelwände?

Er erkannte es als ein großes Glück, daß er diese wichtige Entdeckung bereits heute, bereits in der ersten Stunde gemacht habe. Wie nun, wenn er sich in Gegenwart des Lauschers entkleidet und seinen künstlichen Buckel abgelegt hätte? Sein Geheimnis wäre sofort verraten gewesen. Er hatte eine doppelte Verantwortung, vorsichtig zu sein. Auf der anderen Seite aber war es auch möglich, daß er aus seiner gegenwärtigen Erfahrung Nutzen ziehen könne.

Zunächst mußte er zu erfahren suchen, wer der Lauscher sei, denn nur im Zimmer desselben konnte der Eingang zu den Doppelwänden sein. Ober gab es auch noch andere Eingänge? Seine Gedanken wurden unterbrochen, denn es erschien ein Diener, welcher ihm meldete, daß er von dem Herrn Kapitän und dem gnädigen jungen Herrn unten im Hof erwartet werde.

Er gehorchte dem Ruf und fand die beiden Genannten seiner harrend. Der Haushofmeister stand mit einigen Dienern dabei, welche Waffen hielten. Alexander schien sich von seinem Schreck bereits erholt zu haben. Er sah zwar noch blaß, aber ganz und gar nicht krank aus. Er kam dem Erzieher entgegen und sagte:

„Monsieur Müller, ich wollte schlafen, aber es geht nicht. Großpapa sagte, daß Sie die Probe machen sollten, und da muß ich dabei sein.“

Der Kapitän deutete nach einer Ecke des Schloßhofes und meinte:

„Sie sehen dort die Turnapparate. Gehen Sie hin und zeigen Sie uns, was Sie leisten.“