„Sehr wohl, gnädiger Herr!“
Mit diesen einfachen Worten schritt Müller nach der Ecke, stellte sich vor den Bock und sprang, ohne Ansatz zu nehmen oder die Hand als Stütze zu gebrauchen, über die ganze Länge des Gerätes hinweg. Dann trat er zum Reck, legte die Hand an und machte, ohne sich eines Kleidungsstückes zu entledigen, den Riesenschwung mit nur einem Arm.
„Genügt dies, Herr Kapitän?“ fragte er.
„Großpapa, das hat noch keiner gebracht!“ sagte Alexander.
„Sehr wahr“, nickte der Alte. „Monsieur Müller, satteln Sie sich den Braunen, den man jetzt vorführt. Sie sollen die Schule reiten.“
Ein Stallknecht brachte das Pferd; ein anderer trug Sattel und Zaumzeug herbei.
„Ist nicht nötig“, meinte Müller.
„Monsieur, der Braune ist schlimm!“ warnte der Alte. „Er trägt nur mich, jeden anderen wirft er ab.“
Das Pferd schien längere Zeit nicht aus dem Stall gekommen zu sein. Es tanzte mit hochspielenden Beinen und zerrte an dem Halfter, so daß der Knecht es kaum zu halten vermochte. Müller trat, ohne die Warnung des Alten zu beachten, hinzu und musterte das Pferd mit Kennermiene. Er nickte mit anerkennendem Lächeln und sagte:
„Sohn eines arabischen Halbblutes und einer englischen Mutter. Nicht, Herr Kapitän?“
„Allerdings“, antwortete der Gefragte. „Aber, sagen Sie, Monsieur Müller, woher haben Sie dieses Kennerauge, welches – – – Morbleu! Geht weg!“
Er sprang mit diesen letzten Worten zur Seite, denn Müller saß, man wußte gar nicht, wie er hinaufgekommen war, ganz plötzlich auf dem Pferd, hatte das Halfter ergriffen und jagte nun mit dem Braunen im Hof herum. Das Tier gab sich alle Mühe, den Reiter abzuwerfen, aber dieser saß so fest, als sei er angewachsen. Kannte er vielleicht ein geheimes Mittel? Fast schien es so, denn nach kaum einer Minute hatte er das Pferd beruhigt und ritt nun die Schule durch, mit einer Sicherheit und Eleganz, als ob er sich vor tausend Zuschauern in der Arena sehen lasse. Dann, als er in Galopp war, legte er sich plötzlich vornüber, sprengte quer über den Hof und mit einem kühnen, unvergleichlichen Satz über die drei Ellen hohe Hofmauer hinweg.
„Mille tonnerres!“ schrie der Kapitän. „Er muß den Hals brechen. Der Braune ist auf alle Fälle hin.“
Alles rannte nach dem Tor. Sie hatten es aber noch nicht erreicht, so stoben sie erschrocken zur Seite; denn von draußen rief die laute Stimme Müllers:
„Holla, gebt Platz drin!“
Und in demselben Augenblick kam der Doktor wieder über die Mauer hereingesprungen. Er ritt noch einige Male im Kreis umher, um das Pferd zu beruhigen, und sprang dann ab.
„Alle Teufel, wo haben sie das Reiten gelernt?“ fragte der Alte.
„Mein Lehrer war ein Ulan“, antwortete der Gefragte.
„Reiten alle Ulanen so, Monsieur?“
„Noch besser.“
„Ja, sie sind ein wildes Volk, dieses Hulanes. Sie wohnen in der Wüste, heiraten zehn bis zwanzig Frauen und reiten die Pferde zu Tode. Aber jetzt sollen Sie schießen.“
Müller sagte nichts, doch hatte er Mühe, ein Lächeln über die Worte des Alten zu verbergen. Er kannte ja zur Genüge die Tatsache, daß die Franzosen höchst zweifelhafte Geographen sind, und daß sie die Ulanen für eine wilde Völkerschaft halten, welche an der östlichen Grenze von Preußen lebt und beinahe zu den Menschenfressern gerechnet werden muß. Ehe man sie im Jahre 1870 in Frankreich kennen lernte, dichtete man ihnen die ungereimtesten Dinge an. Es war klar, daß man sie mit den Baschkiren und andern asiatischen Völkerschaften verwechselte.
Der Kapitän nahm aus der Hand des Hausmeisters einen Hinterlader und sagte, empor zur Wetterfahne deutend:
„Alexander hat gestern jenen kleinen Ballon steigen lassen, welcher mit der Schnur dort oben hängen geblieben ist. Ich werde ihn treffen.“
Er legte an und drückte ab. Der Ballon war getroffen.
„Sehen Sie! Machen Sie es nach.“
Er reichte dem Lehrer das Gewehr und eine Patrone. Dieser betrachtete jenes aufmerksam und sagte:
„Ah, ein Mauser! Ich kenne das Gewehr nicht, aber ich hoffe, wenn nicht mit dem ersten, so doch mit dem zweiten Schusse die Schnur zu treffen.“
Die Männer blickten einander mit ungläubigem Lächeln an. Er aber lud und zielte. Der Schuß blitze auf, und der Ballon schwebte auf das Dach nieder. Die Schnur war zerrissen worden.
„Wahrhaftig, Sie schießen ebensogut, wie Sie reiten und turnen!“ rief der Alte. „Jetzt eine Fechtprobe. Ich bin überzeugt, daß ein Deutscher es auf diesem Gebiet mit keinem Franzosen aufnimmt. Hier, der Hausmeister weiß einen Degen zu führen. Er war Premier sergent (Wachtmeister) bei den Chasseurs d'Afrique. Ich stelle nämlich nur gediente Militärs bei mir an, was leider in Hinsicht auf Sie nicht der Fall ist. Wollen Sie einen Gang mit ihm wagen?“
„Wenn Sie befehlen, so gehorche ich, Herr Kapitän“, antwortete Müller.
„So legen Sie los!“
Bei diesen Worten spielte ein beinahe unheimliches Zucken um den Mund des Alten. Sein weißer Schnurrbart zog sich empor, und es zeigte sich jenes gefährliche Fletschen der Zähne, welches stets unheilverkündend war. Er wußte, daß der Hausmeister ein sehr guter Fechter sei, und bei seinem rücksichtslosen Charakter wäre es ihm nur ein Amüsement gewesen, dem Deutschen eine Quantität Blutes abzapfen zu sehen.
Der Hausmeister hatte zwei gerade, schwere Chasseursdegen in den Händen. Er reichte dem Lehrer einen hin und sagte lächelnd:
„Monsieur Müller, bestimmen Sie gefälligst, wo ich Sie treffen soll!“
Müller prüfte den Degen und antwortete:
„Diese Degen sind ja scharf und spitz. Wir befinden uns nicht im Feld. Wollen wir nicht stumpfe Waffen wählen und uns mit Haube und Bandagen versehen?“
„Ah, Sie fürchten sich?“ höhnte der Franzose.
„Allerdings habe ich Furcht“, antwortete ruhig der Deutsche.
„Und das gestehen Sie?“ fragte der Intendant mit verächtlichem Lächeln.
„Wie sie hören. Aber Sie scheinen mich falsch zu verstehen. Ich habe nämlich Furcht, Sie zu verletzen; für mich freilich hege ich nicht die Spur von Bangigkeit. Sie haben mir erklärt, daß Sie mein Vorgesetzter sind. Darf ich einen Vorgesetzten verwunden?“
„Warum nicht, wenn Sie es fertig bringen! Also sagen Sie mir getrost die Stelle, an welcher ich Sie treffen soll!“
„Das werde ich unterlassen, denn damit würde ich für mich natürlich das Recht beanspruchen, Sie an der gleichen Stelle zu treffen.“
„Dieses Recht erteile ich Ihnen. Also wo, Monsieur Müller?“
Der Gefragte zuckte die Achseln und sagte:
„Wenn denn einmal der Ort, an welchem man treffen soll, genannt werden muß, so treffen Sie diese Bestimmung lieber selbst. Ich bin hier fremd und muß vermeiden, mir Vorwürfe machen zu lassen.“
„Gut“, meinte der Intendant mit einem boshaften Blicke. „Diese Degen sind zwar besser für den Stoß, aber wollen wir sie uns nicht lieber einmal im Hiebfechten über die Gesichter ziehen?“
„Ganz wie Sie wollen, Monsieur“, meinte Müller. „Ich mache Sie jedoch darauf aufmerksam, daß man dabei sehr leicht die Nase oder ein Auge verlieren, kann, wobei es außerdem noch jammerschade um Ihre seidene Weste sein würde.“
„Ah, Sie spotten! Sie meinen, daß ich es sein werde, der die Nase verliert. Ich werde Ihnen das Gegenteil beweisen. Herr Kapitän, billigen Sie unsere Vereinbarung?“
Über das Gesicht des Alten zuckte ein wilder, kampfbegieriger Zug. Er nickte und sagte:
„Ich gestatte sie unter der Bedingung, daß keinerlei Folgen auf mich fallen. Sie stehen beide in meinen Diensten. Wer von dem anderen dienstunfähig gemacht wird, hat keinen Sou Entschädigung von mir zu verlangen.“
„Gut! Beginnen wir also!“