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Droben stand die Baronin am offenen Fenster. Sie hatte die Proben, welche Müller ablegen mußte, mit angesehen; sie hatte auch jedes Wort, welches gesprochen worden war, deutlich gehört. Eine andere hätte Widerspruch erhoben; sie aber freute sich auf den Kampf und legte sich weiter zum Fenster heraus, um besser zusehen zu können. Sie war ein Weib ohne Herz und Gemüt.

Der Intendant legte sich aus – die Klingen blitzten –, da stieß er einen lauten Schrei aus und fuhr zurück. Der Degen entsank ihm, und seine beiden Hände fuhren nach dem Gesicht, aus welchem ein breiter Blutstrahl niederfloß.

„Alle Teufel, welch ein Hieb!“ rief der Kapitän.

„Er hat es gewollt“, sagte Müller gleichmütig, „obgleich es mir leid tut, meinem Vorgesetzten zeigen zu müssen, daß er noch Verschiedenes zu lernen hat, ehe er davon reden kann, daß ich mich vor ihm fürchte.“

Der Intendant war quer über das Gesicht herüber getroffen. Der fürchterliche Hieb war ihm über den unteren Teil der Stirn und durch das Auge gegangen und hatte dann den Nasenknochen tief gespalten. Das Auge war verloren – der Verwundete brüllte vor Schmerz und Wut.

„Schafft ihn fort und holt den Arzt!“ gebot der Alte. „Wer hätte gedacht, daß er seinen Meister finden werde! Monsieur Müller, Sie sind ein ganzer Fechter. Man hat sich trotz Ihrer – hm, Unbefangenheit vor Ihnen in acht zu nehmen. Sie haben Ihre Probe exzellent bestanden; ich vertraue Ihnen meinen Enkel an.“

„Ich danke Ihnen, gnädiger Herr“, antwortete Müller. „Die Probe war etwas ungewöhnlich, aber da mir mein Gesicht jedenfalls lieber ist, als dasjenige des Herrn Intendanten, so mußte ich mich wehren.“

Er kehrte nach seinem Zimmer zurück, während der Intendant von einigen Dienern nach dem seinigen geschafft wurde. Alexander hatte alles mit angesehen und sagte jetzt zu dem Alten:

„Großpapa, dieser Monsieur Müller ist doch ein ganz anderer Mensch als je einer meiner früheren Lehrer. Er fürchtet sich nicht, vor mir und selbst vor dir nicht, wie es scheint. Das gefällt mir. Ich werde ihn nicht wieder fortlassen.“

Und droben stand die Baronin. Sie hatte die Fenster geschlossen, stand vor dem Spiegel, um ihr schönes Bild zu betrachten, und murmelte:

„Welch ein Mann! Er tat das alles wie spielend. Selbst der Sprung war so leicht und graziös, so daß der Fremde von seiner Manneswürde gar nichts verlor. Ein solcher Sprung ist gefährlich, denn der Springer kann sich sehr leicht lächerlich machen, was schlimmer als eine Verletzung ist. Dieser Deutsche ist gebaut wie ein Adonis. Hätte er doch diesen fatalen Auswuchs nicht! Er wäre mir wahrhaftig lieber noch als der Direktor, welcher zu wenig Geist und Feuer besitzt.“

In seinem Zimmer angekommen, musterte Müller zunächst seinen Kopf. Glücklicherweise saß seine Perücke fest. Hätte er sie verloren, so wäre sicher bemerkt worden, daß unter der falschen, schwarzen Bedeckung sich ein echtes blondes Haar verbarg. Es war überhaupt beinahe ein Wunder zu nennen, daß diese Perücke nicht bereits während der gefährlichen Schwimmpartie in der Mosel verlorengegangen war. So hängt oft an Kleinigkeiten das Gelingen eines großen Planes.

Nach einiger Zeit kam ein Diener, um Müller zu sagen, daß der junge Herr mit ihm auszugehen wünsche. Das war dem Erzieher lieb. Er hatte so am besten Gelegenheit, den Umfang von Alexanders Kenntnissen und Fertigkeiten zu prüfen und so die notwendige Unterlage zu einem Lehrplan zu erhalten.

Als er, die Treppe hinabsteigend, den Hauptkorridor erreichte, öffnete sich eine Tür, und er erblickte einen Mann, welcher mit gesenkten Augen ihm langsam entgegengeschritten kam. Es war der Baron, der sich vielleicht zu seiner Frau begeben wollte. Müller kannte ihn noch nicht, ahnte aber, als er den geistesabwesenden Ausdruck des bleichen Gesichtes bemerkte, sogleich, wer jener sei. Er blieb stehen, um ihn vorüber zu lassen.

Sobald der Baron völlig herangekommen war, bemerkte er, daß jemand da stehe. Er erhob das Auge langsam und richtete den starren Blick auf Müller. Da ging eine wunderbare, aber gewaltige Veränderung in diesem toten Gesicht vor: die Augen wurden langsam größer und erhielten den Ausdruck des Bewußtseins; die Brauen zogen sich empor, und der Mund öffnete sich in jener Weise, wie man es bei einem heftigen Erschrecken bemerkt. Der Baron stand einige Augenblicke mit geöffnetem Mund und abwehrend ausgestreckten Armen da; dann drehte er sich plötzlich um und rannte nach der Tür zurück; aus welcher er gekommen war. Dabei stieß er mit kreischender Stimme, der man eine entsetzliche Angst anhörte, die Worte aus: „Er ist's! Er ist's! Er sucht wieder die Kriegskasse! Flieht, um Gottes willen! Er sucht die Kriegskasse!“

Damit verschwand er hinter der erwähnten Tür. Auch Müller stand bewegungslos da. Die Worte des Irren hatten einen ungeheuren Eindruck auf ihn gemacht. Er verharrte noch ohne Regung, als sich bereits mehrere Türen öffneten. Die Baronin erschien und ebenso der alte Kapitän, welcher heftig an ihn herantrat und ihn mit funkelnden Augen fragte:

„Was ist's? Was gibt's! Wer rief hier so laut?“

Er bedurfte der ganzen ungewöhnlichen Selbstbeherrschung, welche Müller besaß, um sich zusammenzunehmen. Sein Gesicht nahm augenblicklich einen ganz verwunderten Ausdruck an; er sah aus, wie einer, der etwas nicht begreifen kann. Er schüttelte den Kopf und antwortete:

„Ich kam soeben die Treppe herab, da rief ein Herr, den ich nicht kenne, da vorn im Korridore von Krieg und vom Fliehen. Welch ein eigentümlicher Scherz!“

„Welche Worte hat er gebraucht?“ forschte der Alte dringend. „Sagen Sie es genau, ganz und gar genau!“

„Die Worte Krieg und Fliehen.“

„Keine anderen?“

„Nein, wenigstens habe ich keine anderen vernehmen können.“

Er hütete sich wohl, die Wahrheit zu gestehen. Er stand da ganz unerwartet vor der Lösung des Problems, welches auf das Tiefste in sein Leben, ja in das Glück seiner Familie und Anverwandten eingriff. Es lüftete sich hier auf einmal der Schleier eines Geheimnisses, für dessen Lösung er sehr oft so gern sein Leben hingegeben hätte. Wie viele, viele hundertmal hatte er, hatte seine liebe, herzige Mutter, hatte sein alter, greiser Großvater und seine holde, schöne Schwester auf den Knien gelegen, um Gott inbrünstig zu bitten, einen Lichtblick in das Dunkel fallen zu lassen! Vergebens! Und nun, nach langen Jahren, nach dem Aufgeben aller Hoffnung, kam so unerwartet der erbetene Strahl, zwar nicht scharf und blendend wie ein Blitz, auch nicht hell und überzeugend wie das Licht des vollen Tages, aber doch vorbereitend und Ahnung erweckend wie das furchtsame, leise versuchende Grauen eines Morgens nach dunkler Wetternacht. Da galt es, vorsichtig zu sein!

„Es war mein Sohn, der Baron de Sainte-Marie“, meinte der Veteran jetzt kalt. „Sie müssen wissen, daß er an eigentümlichen Anfällen leidet; ich weiß nicht, ob ich sie hysterisch oder anders nennen soll. Dann träumt er laut. Man darf ihn nicht beachten. Ich habe strengen Befehl, daß zu solchen Zeiten ein jeder sich sofort zurückzuziehen hat, da die Gegenwart Fremder den Grad der Anfälle auf das gefährlichste steigert. Auch Sie haben diesen Befehl zu respektieren. Gäben Sie den Worten, welche der Kranke redet, nur die kleinste Beachtung, so würde ich Sie auf der Stelle entlassen, wenn nicht gar noch etwas anderes geschähe!“

Seine Augen glühten in einem bösen Feuer, und seine Zähne zeigten sich. Er hatte in diesem Augenblick ganz das Aussehen eines Mannes, dem das Wohl oder Wehe, das Leben der ganzen Menschheit nur eine Bagatelle gilt.

„Was wollten Sie übrigens hier auf dem Korridor?“ fragte er.

„Ich stand im Begriff, mich nach dem Hof zu begeben“, antwortete Müller demütig.

„Was dort?“

„Der junge Herr erwartet mich dort. Er hat mich zu einem Spaziergang befohlen.“

„So gehen Sie! Aber merken Sie sich, daß kein Mensch, kein Fremder etwas über die Anfälle meines Sohnes erfahren darf!“