„Sie meinen, man muß ihn ansehen?“
„Ja.“
Der Kapitän lachte.
„Das ist allerdings eine sehr ungewöhnliche Ansicht“, sagte er. „Wir ersuchen jeden Vorübergehenden, stehenzubleiben, um sich ansehen zu lassen, und machen also alle Leute auf uns aufmerksam. Und wenn der Richtige kommt, blicken wir auch ihm an die Nase, so daß er Zeit behält, unsere Absicht zu erraten, sich zur Wehr zu stellen und zu entkommen.“
„Sie nehmen die Sache allerding zu hölzern, Kapitän!“
„Wie soll ich sie sonst nehmen, daß Sie sich den Mann erst genau ansehen wollen?“
„Ansehen? Hm!“ lächelte Reillac überlegen. „Ich meine sogar, daß wir ihn vorher erst anleuchten werden.“
„Sind Sie toll?“
„Wenigstens nicht ganz. Ich habe zu Hause ein allerliebstes kleines Blendlaternchen.“
„Das wollen wir holen?“
„Ja. Ferner habe ich ein Paar ausgezeichnete Doppelpistolen. Wir brauchen sie nicht alle zwei. Eine wird genügen“, meinte Reillac voller Zuversicht.
„Das ist allerdings angenehm“, antwortete Richemonte. „Ich möchte nicht gern abermals nach Hause gehen, was doch geschehen müßte, wenn ich mich meiner eigenen Pistolen bedienen wollte.“
„Sehen Sie, daß ich nicht ganz toll bin! Also, wir müssen sichergehen. Passanten gibt es nicht viele; wir werden also nicht auffallen. Übrigens werden wir es jedem Kommenden am Schritt anhören, ob er ein Offizier ist oder nicht. Ferner wissen wir nicht, welchen Weg Königsau einschlagen wird, wenn er heimkehrt. Wir werden ihn also vor seiner Wohnung erwarten müssen. Auf diese Weise läuft er uns ganz sicher in die Hände, ohne daß wir einem anderen lästig fallen.“
„Aber das Anleuchten –?“
„Habe ich nur so gemeint, daß wir ihm, wenn er kommt, das Licht der Blendlaterne für einen Augenblick in das Gesicht fallen lassen. So überzeugen wir uns, daß er es wirklich ist, und zugleich erhalten Sie dabei ein sicheres Ziel. Sie nehmen die Pistole und ich die Laterne. Während ich ihn beleuchte, schießen Sie.“
„Hm, das ist wirklich nicht übel ausgedacht! Aber wenn er uns erkennt?“
„Wir werden im Dunkeln bleiben, und zudem wird er von dem plötzlichen Licht so geblendet sein, daß er gar nichts erkennen kann. Übrigens würde er auf keinen Fall etwas verraten können, da er ja bereits im nächsten Augenblick eine Leiche sein wird.“
Der Kapitän überlegte noch. Die Sache kam ihm zu rasch. Der verunglückte Anschlag war kaum vorbei, so sah er sich auch bereits vor eine Wiederholung gestellt.
„Und wenn es gelingt, was tun wir?“
„Wir entfernen uns natürlich!“ lachte der Baron.
„Wohin?“
„Nach meiner Wohnung. Das gibt ein Alibi.“
„Das bezweifle ich. Ihre Leute werden natürlich unser Kommen bemerken; man wird also wissen, daß wir nicht dagewesen sind.“
„Ich bedaure Sie, Kapitän. Ich bin nicht so töricht, wie Sie es zu sein scheinen. Meine Leute glauben mich in meiner Bibliothek. Dort brennt ein Licht, und niemand hat Zutritt, nicht einmal mein Kammerdiener, auf den ich mich übrigens verlassen könnte.“
„Ah, so haben Sie einen geheimen Ausgang?“
„Natürlich!“
„Oh, Sie sind schlau, Baron!“
„Was wollen Sie! In diesen Zeiten weiß man nie, was passieren kann. Übrigens hat man ja auch sonst seine kleinen Verhältnisse und Abenteuer. Da ist es stets gut, wenn die Dienerschaft mit gutem Gewissen beschwören kann, daß man zu Hause gewesen ist. Ich hoffe, daß Sie meinen Vorschlag annehmen?“
„Hm! Sie werden die Wechsel dann wirklich zerreißen?“
„Ja, auf Ehre!“
„Und mir nach der Verlobung die versprochene Summe ganz gewiß auszahlen?“
„Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort.“
„Gut, so stimme ich bei, Baron. Hier meine Hand.“
„Und hier die meinige – Topp!“
Sie schlugen ein, und über Königsau war also abermals der Stab gebrochen.
„Da haben wir aber keine Zeit zu verlieren, Kapitän!“ meinte dann Reillac.
„Ja, wir müssen eilen. Ich mache einen Vorschlag.“
„Welchen?“
„Sie gehen nach Hause, um die Blendlaterne und die Pistole zu holen –“
„Und Sie?“
„Ich gehe nach der Rue d'Ange, um an dem Schatten, den man an den Gardinen sieht, zu erkennen, ob er noch da ist.“
„Ah, richtig; das ist gut! Und wo treffen wir uns?“
„Unter dem Tore, gegenüber von Königsau.“
„Gut. Wie lange bringen Sie zu?“
„Fünf Minuten.“
„Und ich zehn. Klingeln Sie dem Kellner. Ich werde bezahlen.“
Der Kapitän klingelte, und der Baron bezahlte; dann verließen sie das Lokal. Draußen trennten sie sich, da der Kapitän nach links und der Baron nach rechts gehen mußte.
Richemonte hatte gar nicht weit bis zur Rue d'Ange. Sie war finster und leer. Es war bereits spät, und so sah er nur noch einige Fenster erleuchtet. Auch die Wohnung seiner Mutter zeigte Licht. Es huschten Schatten hin und her, und nach einiger Zeit bemerkte er die schattenhaften Umrisse eines Mannes, welche sich deutlich an der Gardine abzeichneten.
„Das ist er“, murmelte er. „Gut, daß er noch da ist. Dieses Mal soll er mir nicht entgehen!“
Er wendete sich um und begab sich nach dem Stelldichein. –
Der Baron hatte auch keinen sehr weiten Weg zurückzulegen. Er erreichte seine Wohnung sehr bald, trat aber nicht ein, sondern begab sich in ein enges, finsteres Seitengäßchen. An dasselbe stieß die Mauer seines Gartens, in welcher es ein Pförtchen gab. Er öffnete dasselbe mit einem Schlüssel, welchen er bei sich führte, und trat in den Garten und von da in den Hof, welcher das Haus von dem letzteren trennte.
Hier gab es eine Veranda, welche auf vier Säulen ruhte. Von einer dieser Säulen zur anderen waren Latten gezogen, an denen sich Schlingpflanzen emporrankten. Diese Latten waren wohl befestigt und vermochten ganz gut, einen nicht gar zu schweren Mann zu tragen.
Der Baron kletterte an ihnen empor. Als er sich oben auf der Veranda befand, stand er gerade vor einem Fenster des ersten Stockwerkes. Es war von innen verschlossen, und er klopfte leise an eine Scheibe. Nach kaum einer Minute öffnete es sich.
„Wer ist da?“ fragte eine leise männliche Stimme.
„Ich“, antwortete Reillac.
„Der gnädige Herr?“
„Ja. Bist du denn heute blind, Pierre?“
„Verzeihung, Herr Baron! Es ist heute so finster, daß man nichts zu sehen vermag.“
„Tritt weg; ich komme hinein.“
„Soll ich Licht anbrennen?“
„Nein. Wir gehen nach der Bibliothek.“
Er stieg durch das Fenster in das Zimmer und begab sich von da aus mit dem Diener nach der Bibliothek, welche erleuchtet war und ganz dem Lesezimmer eines Mannes glich, welcher eine Bibliothek nur besitzt, um mit dem Einband der Bücher zu prunken.
Man sieht, daß der Baron gar nicht so unbeschwert in seine Wohnung kam, wie er dem Kapitän glauben gemacht hatte. Der Kammerdiener war sein Vertrauter, auf den er glaubte, sich in allen Fällen getrost verlassen zu können.
Pierre trug graue Livree, Samtgamaschen und ein weißes Halstuch. Er war von ebenso hagerer, langer Gestalt wie sein Herr, und hatte ein Gesicht, in welchem sich alle Lüste und Listen sehr deutlich aussprachen. Dieser Mann war jedenfalls in allen gestatteten und verbotenen Genüssen geübt und besaß in seinem spitzigen Fuchskopf die nötige Schlauheit, mit der gesellschaftlichen Ordnung ganz freundschaftlich zu verkommen, obgleich er der ärgste ihrer Feinde war.
„Der gnädige Herr kehren heute sehr früh nach Hause zurück“, meinte er.
„Ich gehe wieder.“
„Ah, der Herr Baron kommen nur, um einiges Geld zu holen?“
„Nein.“
„Ich dachte, der Kapitän hätte nach vollbrachtem Tagewerk –“