„Auf wie lange?“ forschte der Baron weiter.
„Auf eine halbe Stunde“, erklärte der Domestike.
„Es schadet ihr nichts?“ fragte der Baron lauernd.
„Im Gegenteil. Es stärkt sie außerordentlich. Sie erwacht wie nach einem langen, gesunden Schlaf und fühlt sich ganz frisch und wohl“, beruhigte der schurkische Kammerdiener seinen würdigen Herrn.
„Und dann? Ah, wo erwacht sie? Beim Feldmarschall Blücher?“
„Damit würde Ihnen wohl nicht gedient sein!“
„Wo denn sonst?“
„Natürlich bei Ihnen.“
„Ah, Teufel!“
„In Ihrem Vorsaal, in Ihrem Empfangs- oder Arbeitszimmer; sie wird überhaupt da erwachen, wo sie es für gut und bequem halten, gnädiger Herr.“
„Höre, dein Plan hat vieles für sich, aber er ist etwas zu phantastisch.“
„Wie phantastisch?“
„Er ist nicht gut auszuführen.“
„Das finde ich nicht, gnädiger Herr.“
„Man muß sich der Ordonnanz und dem Kutscher geradezu auf Gnade und Ungnade ergeben.“
„Das ist ganz und gar nicht notwendig.“
„Woher die Ordonnanz nehmen?“
„Oh, ich kenne einen jungen Mann, welcher für zwei- bis dreihundert Franken recht gern für eine halbe Stunde die Uniform eines deutschen Offiziers anlegen würde.“
„Hat er das nötige Geschick?“
„Oh, sehr! Er ist Schauspieler.“
„Hm! Er müßte Deutsch verstehen und sprechen.“
„Das tut er vollständig.“
„Er müßte verschwiegen sein.“
„Das ist er im höchsten Grad.“
„Kannst du garantieren?“
„Vollständig!“
„So mußt du seiner sehr sicher sein, denn bei der geringsten Plauderei würdest du deine Stelle bei mir einbüßen. Verstehst du wohl?“
„Ich verstehe, brauche aber keine Sorge zu haben. Der junge Mann ist – mein Sohn.“
Der Baron sah den Diener erstaunt an.
„Dein Sohn?“ sagte er. „Du warst ja nie verheiratet! Oder hast du mich da getäuscht?“
Pierre zuckte die Achseln, ließ ein leises Hüsteln hören und antwortete:
„Ich belüge den gnädigen Herrn niemals. Ich bin zwar unverheiratet, aber doch der Vater dieses jungen Mannes. Man hat so seine kleinen Fehler, gnädiger Herr!“
„Gut, gut! Weiß er denn, daß er dein Sohn ist?“
„Freilich. Ich habe ihn ja auf meine Kosten erziehen lassen. Seine Mutter ist jetzt tot. Sie war eine Deutsche; darum versteht er ihre Sprache wie das Französische.“
Der Baron fühlte sich von diesem Plan so eingenommen, daß er gar nicht daran dachte, daß der Kapitän bereits auf ihn wartete. Er schritt im Zimmer auf und ab und begann zu überlegen, während der Diener ihn mit einem heimlichen Lächeln betrachtete.
„Hm, hm!“ sagte er endlich. „So hast du also dieses Mädchen unglücklich gemacht?“
„Unglücklich? O nein. Sie war ja eine Deutsche, und diese sind ja immer froh, wenn sie im Arm eines Franzosen liegen können.“
„Ist dein Sohn in Paris?“
„Ja.“
„Er könnte also zu jeder Zeit zur Verfügung stehen?“
„Zu jeder Zeit. Er ist jetzt ohne Anstellung und privatisiert.“
„Gut. Aber der Kutscher! Wo nimmt man einen verschwiegenen Kutscher her?“
„Auch dafür ist gesorgt. Ich weiß einen, auf den sie sich verlassen können.“
„Wo? Wer?“
„Hier, ich selbst.“
„Ah, alle Wetter, an dich habe ich ja gar nicht gedacht! Du hast ganz und gar Recht; du bist ein Schlaukopf erster Güte. Aber den Wagen? Ich darf doch meinen eigenen Wagen nicht nehmen; das könnte mich schließlich verraten.“
„Ich kenne einen Verleiher von Equipagen, gnädiger Herr.“
„Ist er sicher?“
„Er braucht gar nicht sicher zu sein, denn er wird nicht erfahren, wozu ich den Wagen brauche.“
„So wird er ihn dir nicht geben.“
„Oh, sehr gern. Wir sind sehr gute Bekannte. Er ist Stammgast der Weinstube, in welcher ich zuweilen verkehre, wenn der gnädige Herr mir Urlaub geben.“
„So! Hm! Ich werde mir deinen Plan überlegen. Er bietet mir eine treffliche Chance, falls meine sonstigen Bemühungen vergeblich sein sollten. Die Bedenken, welche ich vorhin hatte, sind verschwunden, aber die größte Schwierigkeit kommt später.“
„Wieso?“
„Wie die Mademoiselle hereinbringen?“
„Oh, durch den Garten.“
„Man wird es bemerken.“
„Nein, denn die Diener werden Erlaubnis erhalten, auszugehen. Sie sind fort.“
„Richtig, das geht! Aber dann das Erwachen!“
„Wird ein interessantes sein.“
„Im Gegenteil. Was wird sie sagen, was wird sie tun? Wird sie schreien?“
„Jedenfalls nicht, denn sie wird gebunden sein und einen Knebel haben.“
„Donnerwetter! Ich bin kein Bandit!“
„Aber ein vorsichtiger Mann, gnädiger Herr. Später kann man die Dame befreien, denn sie wird von selbst schweigen.“
„Aber wenn sie es nicht tut?“
„Oh, es liegt zu sehr in ihrem eigenen Interesse! Sie wird nach Hause zurückkehren, als ob sie bei dem Marschall soupiert habe. Ihr Geliebter wird erfahren, daß dies nicht wahr ist, sie kann ihm nicht sagen, wo und wie sie diese Stunden verbracht hat; sie werden sich entzweien, und der gnädige Herr hat dann freies Feld.“
„Pierre, du bist wirklich ein Satan, aber deine Gedanken sind gut und richtig. Ich werde mir diesen Plan reiflich überlegen. Jetzt aber – Donnerwetter, ich muß fort; der Kapitän wartet auf mich.“
Er steckte die Pistole und die Laterne zu sich und schickte sich an, zu gehen.
„So wollen der gnädige Herr wirklich auf ihn schießen?“ fragte Pierre.
„Ich nicht. Richemonte wird es tun.“
„Aber der Herr Baron werden zugegen sein?“
„Allerdings.“
„So bitte ich untertänigst, sich nicht zu sehr zu exponieren. Die Sache hat Gefahr!“
„Weiß es, Pierre, ich werde vorsichtig sein. Also schließe das Fenster von innen nicht zu. Kommen wir zu zweien, so läßt du dich nicht eher sehen, als bis ich dich hole.“
Er kehrte in das Zimmer zurück und stieg zum Fenster hinaus und an der Veranda hinab. Er gelangte auf demselben Wege, den er gekommen war, wieder auf die Straße und begab sich eiligst nach dem Stelldichein.
Dort war er von dem Kapitän bereits seit langer Zeit ungeduldig erwartet worden.
„Mein Gott, wie lange bleiben Sie denn?“ fragte Richemonte.
„Es ging nicht eher. Der Weg war mir durch ein Liebespaar verlegt“, antwortete Reillac.
„Der Teufel hole die Liebespaare! Ich warte bereits seit drei Viertelstunden!“
„Ist er schon vorüber?“
„Nein, er muß aber jede Minute kommen. Haben Sie die Laterne? Es ist finster wie in einem Sack.“
„Ich habe sie und werde sie gleich anstecken.“
„Und die Pistole?“
„Ja. Hier ist sie.“
„Geladen?“
„Beide Läufe.“
Der Kapitän erhielt die Waffe und untersuchte sie mit den Fingern vorsichtig, ob er sich auf sie verlassen könne. Unterdessen trat der Baron in den tiefen Torbogen zurück und brannte seine Laterne an. Dann steckte er sie, zugeklappt, in die Außentasche seines Rockes, bereit, sich ihrer augenblicklich zu bedienen.
„Jetzt hinüber auf die andere Seite“, sagte er, „dort wohnt er ja.“
„Halt!“ sagte der Kapitän. „Vorher müssen wir unsere Rückzugslinie besprechen.“
„Wozu?“
„Man kann nie wissen, was passiert. Im Falle eines Mißlingens haben Sie mir ja versprochen, mir behilflich zu sein, mein Alibi beizubringen.“
„Gut. Sie bleiben diese Nacht bei mir, Sie sind überhaupt während des ganzen Abends bei mir gewesen.“
„Wir werden uns also nach Ihrem Haus flüchten, falls uns hier etwa Unerwartetes begegnen sollte?“