Königsau rannte ihnen nach, kam aber schnell zur Einsicht, daß dies eine Torheit sei, denn der laute Schall seiner Schritte ließ ihn die Schritte derer, die er verfolgte, nicht hören. Er blieb daher sogleich stehen und riß seine Stiefel herunter. Er bemerkte, daß er sich an Blüchers Wohnung befinde; er hatte bereits einige Sprünge an den Posten vorüber getan. Er rief ihnen daher in fliegender Eile zu:
„Ich bin Lieutenant Königsau. Habt mir acht auf meine Stiefel!“
Dann stürzte er seinen Feinden nach, deren Vorsprung mittlerweile ein bedeutender geworden war.
Glücklicherweise hörte er noch ihre lauten, schnellen Schritte. Er war ein ausgezeichneter Läufer; darum gedachte er, den Vorsprung schnell einzuholen; aber der Küraß war ihm nicht auf den Leib gemacht; er paßte schlecht und hinderte ihn am Laufen. Dennoch war zu hören, daß sich der Abstand zwischen ihm und jenen sehr rasch verminderte, denn er hörte die Schritte immer deutlicher.
Da aber mußte er plötzlich stehen bleiben, um zu lauschen. Er vernahm nämlich, daß sie sich getrennt hatten. Der eine war links in ein Seitengäßchen eingebogen, während der andere geradeaus rannte. Welchem sollte er folgen?
Das Seitengäßchen schien nicht gepflastert zu sein; die Schritte des Fliehenden konnten nicht weit gehört werden; daher war hier eine Verfolgung sehr erschwert, gar nicht gerechnet, daß dieses Gäßchen in ein Gassengewirr führen konnte, in welchem die Spur des Flüchtlings sofort verlorengehen mußte. Er beschloß daher, dem anderen zu folgen, welcher sich geradeaus gehalten hatte.
Er rannte ihm nach, merkte aber bald, daß er auch links eingebogen war. An einer weiteren Ecke mußte er abermals halten, um zu hören, woher die Schritte tönten. Dies nahm ihm Zeit weg. Bei einer dritten Ecke ging es ihm ebenso. Auch hinderte ihn die große Dunkelheit am schnellen Fortkommen.
Endlich stand er abermals vor einem Seitengäßchen, in welchem die Schritte des Fliehenden verhallt zu sein schienen. Er drang da hinein und hatte sehr bald die Ahnung, daß es dasselbe Gäßchen sei, in welches bereits der erste entkommen war.
Da galt es Vorsicht, denn jedenfalls hatten die beiden verabredet, sich hier zu treffen.
Er tastete in der Dunkelheit nach rechts und links. Das Gäßchen war kaum acht Fuß breit. Rechts waren Hintermauern von Häusern, und links schien eine lange Gartenmauer zu sein. Er glitt leise und langsam weiter.
Da war es ihm, als ob er ein Geräusch gehört habe, als ob ein Schlüssel sich in einem alten Schloß drehe. Er lauschte. Und wirklich wiederholte sich der eigentümliche, quietschende Laut, ganz nahe vor ihm, zu seiner Linken, also in der Gartenmauer.
Er schlich weiter hinzu, und nun hörte er gar zwei Stimmen, zwar gedämpft, aber doch auch nicht ganz leise.
Königsau fühlte mit der Hand ein Pförtchen, welches sich in der Mauer befand, und hinter demselben, im Garten also, standen die beiden Sprechenden, welche wohl nicht ahnten, daß der Verfolger so nahe sei.
„Das war ein ganz verfluchter Tag!“ hörte er sagen.
„Wer ist schuld als Sie!“ meinte der andere.
„Ich? Inwiefern?“
„Erst stechen Sie verkehrt und dann zielen Sie falsch.“
„Konnte ich zielen, wenn Sie falsch leuchteten? Übrigens, warum ergriffen Sie die Flucht? Wir hätten ihn kaltmachen können, wenn Sie blieben; mir allein war dies nicht möglich. Sie haben mich immer einen Feigling genannt; jetzt aber gebe ich Ihnen dieses Wort mit doppelten Zinsen zurück.“
„Oh, es wäre mir gar nicht eingefallen, fortzulaufen, wenn nicht Hilfe gekommen wäre.“
„Hilfe? Wieso?“
„Hörten Sie es nicht rufen, gerade ehe ich zur Laterne griff?“
„Ja. Wer muß der Mensch gewesen sein? Es ist, als sollte uns jetzt alles quer gehen. Aber morgen ist auch ein Tag. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.“
„Gewiß. Aber kommen Sie. Hier ist nicht der Ort zu unserer Unterhaltung.“
„Wie kommen wir hinein? Durch die Tür?“
„Nein. Man würde dies bemerken. Alle meine Leute denken, ich arbeite noch in der Bibliothek. Wir steigen an der Veranda empor und dann zum Fenster hinein.“
„Steht es auf?“
„Ja. Kommen Sie.“
Sie entfernten sich. Königsau verhielt sich ruhig. Er hörte nach einer längeren Weile ein Fenster klingen und wußte nun, daß sie sich im Innern des Hauses befanden.
Die Mauer war so hoch, daß er ihre Kante nicht mit der Hand zu erreichen vermochte. Nun suchte er nach einer schadhaften Stelle. Es gab keine, aber dafür fand er eine, an welcher der Mörtel vollständig los- und herausgebrochen war. Die großen, zwischen den Steinen befindlichen Ritzen gaben seinen Fingern und Fußspitzen einen zwar nicht bequemen, aber doch genügenden Haltepunkt, so daß er emporklettern konnte. Drüben ließ er sich wieder hinab.
Es war kein ungefährliches Unternehmen für ihn, hier einzudringen. Er befand sich als Feind des Vaterlandes in Paris und verfolgte hier zwei persönliche Feinde. Wurde er erwischt, so galt es jedenfalls einen Kampf auf Leben und Tod. An Gnade und Erbarmen war auf keinen Fall zu denken.
Er befand sich jetzt im Garten, aber es war so dunkel, daß er sich forttasten mußte. Da anzunehmen war, daß sich die Hausfront parallel mit der Gartenmauer ziehe, so ging er im rechten Winkel von der letzteren aus gerade vorwärts und gelangte auch bald in den Hofraum, wo er die Veranda fand, von welcher der eine gesprochen hatte.
„Also hier sind sie emporgeklettert“, dachte er. „Trägt sie diese beiden, so trägt sie jedenfalls auch mich. Ich werde es auf alle Fälle versuchen.“
Er fühlte die Querlatten. Es ließ sich an ihnen wie an einer Leiter emporsteigen. Als er oben anlangte, untersuchte er die Decke der Veranda, ob sie ihn auch halten werde. Sie war stark genug dazu. Er trat auf sie und richtete sich empor. Er stand vor einem Fenster, das zwar von innen verschlossen, jedenfalls aber dasselbe war, durch welches jene eingestiegen waren.
Ein Blick überzeugte ihn, daß dasselbe zu einem jetzt unerleuchteten Raum führe. Von diesem aber ging eine Tür, welche fast ganz geöffnet war, in ein Nebenzimmer, in welchem eine große Lampe eine hinreichende Helligkeit verbreitete, um alles erkennen zu können. Zwei Männer gingen darin auf und ab. So oft sie an der geöffneten Tür vorübergingen, konnte er sie sehen.
„Ah; der Kapitän und dieser Baron Reillac! Ich habe es mir gleich gedacht.“
So sagte Königsau zu sich, indem er diese beiden betrachtete.
Sie mußten ein sehr erregtes Gespräch führen, wie aus ihren Mienen und den lebhaften Gestikulationen zu ersehen war. Leider konnte der Lauschende nicht alles hören; nur einige abgerissene Brocken wurden ihm verständlich.
„Das, ja, das ist das Beste!“ hörte er den Kapitän sagen.
„… komme ich unblutig in ihren Besitz“, meinte darauf der Baron. „Ob ich dann aber auch das gleiche zahle, das …“
„Das versteht sich ja ganz von selbst, denn wenn ich es nicht zugebe, so wird aus diesem Plan nicht das …“
„Na, so mag es sein. Ich denke … soll es mir auf die versprochene Summe nicht ankommen … Sie ja mein Schwager werden, und da darf man als anständiger Mann nicht …“
Diese auseinandergerissenen Sätze waren von dem Baron zu hören. Der Kapitän antwortete darauf:
„Wenn es gelingt, so … man vergeblich suchen wird. Besonders dieser verdammte Königsau … der mir …“
„Die Hauptsache ist“, fuhr der Baron fort, „ob wir bereits … welche Uhr er stets zu kommen pflegt … muß es schon geschehen sein … sonst ist es jedenfalls zu spät.“