Die einzige Erleichterung für die Auswanderer war, daß ihnen der Sturm nicht direkt entgegenschlug, sondern nur von der Seite kam. Doch es fiel ihnen schwer, diesen Umstand als freudiges Ereignis anzusehen.
Viele fluchten und schimpften auf die Prärie, die sich einen Spaß daraus zu machen schien, von einem Wetterextrem ins andere zu verfallen. Von staubtrockener Hitze in einen kalten Regensturm.
»Wenn das so weitergeht, können wir unseren Zeitplan kaum einhalten«, brummte Abner Zachary, als Jacob neben dessen Conestoga ritt. Mit düsterem Gesicht sah der Prediger hinauf in den nicht minder düsteren Himmel. »Der Herr möge mit uns sein!«
»Vielleicht ist der Herr mit uns«, erwiderte Jacob mit wenig Enthusiasmus. »Petrus ist es jedenfalls nicht.«
Den ganzen Tag lang hielt der Sturm an und auch die Nacht über. Die Welt schien aus nichts anderem mehr zu bestehen.
Als die Auswanderer am nächsten Tag von den Schüssen der Wachen geweckt wurden, zerschlug sich ihre Hoffnung auf besseres Wetter. Der Regen hatte eher noch zugenommen, und wieder waren viele Wagen über Nacht im Schlamm versackt. Das wenige Sonnenlicht, das die dicke Wolkenschicht durchließ, erhellte die Prärie an diesem Tag kaum mehr als Mond und Sterne in einer klaren Nacht.
Jeden Morgen und jeden Abend beteten Abner Zachary und die von ihm geführten Menschen um besseres Wetter. Aber wer immer für das Wetter verantwortlich sein mochte, der Herr oder Petrus, er enttäuschte die Auswanderer.
Mit jedem Tag wurde die Reise beschwerlicher, wurde es für Pferde, Mulis und Ochsen schwieriger, die Wagen durch den Schlamm zu ziehen. Und damit verlangsamte sich die Reisegeschwindigkeit zusehends. Bei gutem Wetter legte man fünfzehn Meilen pro Tag zurück. Jetzt waren es mit viel Glück noch zehn, oftmals weniger.
Während der Mittagsrast des fünften Regentags versammelte Abner Zachary seine Leute um sich und verkündete den Entschluß, den er nach reiflichem Nachdenken gefaßt hatte.
»Die Schwere unserer Wagen behindert uns, also müssen wir sie erleichtern. Alle Möbelstücke und alles, was nicht unbedingt zum Überleben und zum Aufbau unserer Siedlung notwendig ist, wird hier zurückgelassen !«
»Die guten Stücke werden im Regen verderben!« rief eine Frau entsetzt.
Auf der Stirn des Predigers bildeten sich tiefe Falten. Er sah die Frau an, wie ein Lehrer ein störrisches oder dummes Kind anblicken mochte.
»Dann verderben sie halt!« erhob er seine Stimme zu Donnerhall. »Wir werden keine Gelegenheit haben, sie wieder einzusammeln.«
»Aber ich kann doch nicht den Sekretär meines Urgroßvaters hier zurücklassen«, erwiderte die Frau. »Er ist ein altes Familienerbstück.«
»Was ist dir lieber, Schwester?« fragte Zachary scharf. »Der Sekretär oder dein Leben?«
Die Frau sah ihn bestürzt an, als begriffe sie erst jetzt die ganze Tragweite dessen, was ihnen drohte, wenn es dem Treck nicht gelang, schneller voranzukommen. Erst öffnete sie ihren Mund, um etwas zu entgegnen, aber dann schlug sie beschämt die Augen nieder.
Obwohl die Auswanderer die Entscheidung ihres Captains akzeptierten, hatte Zachary einige Mühe, sie in die Tat umzusetzen.
Fast jede Familie konnte einen wichtigen Grund angeben, warum sie sich nicht von diesem oder jenem trennen wollte. Das Porzellanservice der Aussteuer oder der mit feinen Schnitzereien verzierte Schaukelstuhl versperrten den Menschen den Blick darauf, daß ihnen all diese Dinge nichts nutzten, wenn sie ihr Leben verloren.
Jacob und Irene gingen mit gutem Beispiel voran, als sie Jamies Kinderbett aus dem Planwagen warfen, obwohl ihr Gefährt zu den leichtesten des Trecks gehörte. Dafür nahmen sie einiges von Sam Kelleys Ausrüstung an Bord. Seine fahrbare Schmiede wurde nicht nur in Oregon gebraucht, sondern konnte dem Treck schon unterwegs von Nutzen sein.
Deshalb wurde Kelleys Ausrüstung auf mehrere Wagen verteilt. Einige Auswanderer murrten zwar darüber, daß sie ihr eigenes Hab und Gut opfern mußten, um die Werkzeuge des Schmieds zu transportieren, aber der Prediger sprach ein Machtwort, und das Wort des Treck-Captains war unterwegs Gesetz.
Schon bald erwies sich, wie sehr Kelleys Ausrüstung dem Treck von Nutzen war. Ein Wagen sackte so tief in ein verstecktes Schlammloch, daß die eiserne Vorderachse brach. Der Prärieschoner hätte aufgegeben werden müssen, hätte Kelley die Achse nicht repariert.
Trotz der Gewichtserleichterung kam der Treck weiterhin nur langsam voran. Er hätte den Big Blue River, hinter dem die Ortschaft Manhattan lag, nach zwei Wochen erreichen müssen. Aber es dauerte fast drei Wochen.
Und als die Wagen endlich vor dem Fluß standen, standen sie zugleich vor einer Katastrophe.
*
Der Treck erreichte den Zufluß des Kansas River gegen Mittag, was recht günstig war. Den Auswanderern verblieb genug Tageslicht, um den Fluß zu überqueren, um weiter nach Manhattan zu fahren, wo es alles Notwendige zur Ergänzung der Vorräte geben sollte, wie Oregon Tom gesagt hatte.
Ursprünglich hatte der von einigen Spekulanten, die einfach mitten in der Wildnis ein paar Parzellen Land abgesteckt und zur neuen Stadt erklärt hatten, gegründete Ort »Boston« geheißen. Als ein paar Auswanderer sich dort niederlassen wollten, aber auf dem nicht weniger anmaßenden Namen »Manhattan« beharrten, hatten die wendigen Städtegründer sich nicht dagegen gesperrt. So war die Ortschaft langsam angewachsen und lebte jetzt hauptsächlich von den durchreisenden Trecks, die sich hier noch einmal verpflegten, ehe sie die nächste Etappe nach Fort Laramie in Angriff nahmen.
Jacob befürchtete schon das Schlimmste, als der Fluß noch außer Sicht war, aber schon das laute Gurgeln und Rauschen an seine Ohren drang. Es erinnerte ihn an den vom Regen angeschwollenen Namensvetters des Big Blue River, den im Staat Missouri gelegenen Blue River. Aber da hatte es eine Brücke gegeben, über die Jacob und seine Begleiter Quantrills wilden Reitern entkommen waren.
Er trieb den Grauschimmel an und zügelte ihn erst auf der Kuppe des nächsten Hügels. Von hier aus konnte er den Fluß sehen. Augenblick schwand seine Hoffnung, ihn rasch überqueren zu können.
Das »kleine Flüßchen« von dem Oregon Tom gesprochen hatte, hatte sich durch den Dauerregen der letzten Tage in einen ausgewachsenen Strom verwandelt.
Andere Reiter hielten neben Jacob an und machten ihrer Enttäuschung in wilden Flüchen Luft. Auch Tom Bidwell und Aaron Zachary waren unter ihnen.
Aaron sah den Scout finster an.
»Haben Sie nicht gesagt, Bidwell, den Big Blue könne man bequem durchwaten?«
»Normalerweise kann man das auch«, verteidigte sich der Mann auf dem Schecken. »Ich konnte mit diesem Unwetter schließlich genauso wenig rechnen wie jeder andere.«
»Wo ist denn die Furt, von der Sie uns berichtet haben?« fragte Jacob.
Der Scout zeigte auf eine Stelle direkt unter ihnen, wo das brausende, brodelnde Wasser mindestens eine Breite von zehn Wagenlängen besaß.
»Das da ist die Furt!«
Aaron Zachary betrachtete eingehend den Fluß und sah dann den Scout zweifelnd an.
»Da sieht es nicht weniger tief aus als überall sonst, wenn ich mir den Fluß so ansehe.«
»Das kommt durch das Hochwasser«, meinte Bidwell lakonisch.
»Was Sie nicht sagen!«
»Wir müßten feststellen, wie tief der Fluß an dieser Stelle ist«, meinte Jacob.
»Ach ja?« fragte Aaron Zachary spöttisch und legte den Kopf schief. »Und wie haben Sie sich daß gedacht, Mr. Adler?«
»Ganz einfach: Ich gehe hinein.«
Der Deutsche, erklärte seinen Plan den Männern, die nichts dagegen hatten, wenn er unbedingt ein Vollbad nehmen wollte. Also trieben sie ihre Pferde an und ritten den Hügel hinunter zum Flußufer.
An der von Oregon Tom als Furt bezeichneten Stelle legte Jacob seine Kleider ab, bis er nur noch seine Unterwäsche trug. Er war froh, daß die Frauen bei den Planwagen jenseits des Hügels waren. Die Männer suchten das stärkste ihrer Seile heraus und banden es Jacob unter den Achseln um den Leib. Während Jacob langsam auf das schäumende, vom abgetragenen Erdreich braune Wasser zuschritt, hielten die übrigen Männer das Seil fest und blickten ihm gebannt nach, ganz vorn stehend Martin.