Anfangs erweckte der Fluß tatsächlich den Eindruck einer flachen, leicht zu durchwatenden Furt. Nur ganz allmählich geriet Jacob in tieferes Wasser, das ihm bis zu den Hüften reichte.
Aber plötzlich verlor er den Boden unter den Füßen und versank in den Fluten. Um ihn herum war nur noch das braune Wasser, von dem er unfreiwillig ein paar kräftige Schlucke nahm. Die Strömung war an dieser tieferen Stelle äußerst stark und wirbelte ihn herum wie ein welkes, abgefallenes Blatt im Herbststurm. Vergeblich versuchte er, wieder festen Grund unter die Füße zu bekommen.
Ihm blieb bereits die Luft weg, als er einen Druck um seine Brust spürte. Die Schlinge zog sich zusammen, und Jacob wurde durchs Wasser gezogen, dem rettenden Ufer entgegen.
Endlich tauchte er aus den Fluten auf, heftig hustend, Wasser ausspuckend und nach Atem ringend. Auf allen Vieren kniete er im flachen Ufergewässer und kroch, als er sich wieder gefangen hatten, langsam an Land. Martin sprang ihm entgegen, faßte ihm unter die Arme und half ihm beim Aufstehen.
»Es hat keinen Zweck«, sagte Jacob, noch immer hustend. »Ich hatte plötzlich gar keinen Boden mehr unter den Füßen.«
Er kleidete sich nicht erst an, bevor er sich in den Sattel zog. Bei den Wagen mußte er sich so schnell wie möglich abtrocknen, wollte er sich nicht eine Lungenentzündung zuziehen. Eilig ritten die Männer nun zum Treck zurück, wo Jacobs Aufzug mit einiger Verwunderung und vereinzelter Belustigung registriert wurde.
Der junge Deutsche kümmerte sich nicht weiter darum, sondern kletterte in seinen Wagen, um sich abzureiben und trockene Wäsche anzuziehen. Es ließ sich nicht vermeiden, daß der in seinem aus Decken gebildeten Lager schlafende Jamie dabei erwachte. Aber der Kleine weinte nicht, sondern verzog sein glattes, rundes Gesicht zu einem erheiterten Ausdruck, als er den pudelnassen Mann erblickte.
Irene, die auf dem Bock saß, wandte sich besorgt um und fragte, was geschehen sei.
»Ich habe ausprobiert, wie tief der Fluß ist«, antwortete Jacob, während er sich auf den Rücken legte, um in der Enge des Wagens seine wollene Nadelstreifenhose anzuziehen.
»Und?« fragte Irene gespannt.
»Zu tief.«
Jacob sprang wieder nach draußen, stieg auf den Grauschimmel und ritt zum vordersten Wagen, wo die Reiter mit Abner Zachary beratschlagten.
Der Prediger hob seine buschigen grauen Brauen, als Jacob angeritten kam, und rief: »Ich höre, Sie haben ein Bad im Big Blue riskiert, um herauszufinden, ob wir den Fluß durchqueren können. Ich danken Ihnen dafür, Mr. Adler.«
»Leider war es vergeblich«, erwiderte Jacob. »Von einer Furt ist nichts mehr zu sehen oder zu spüren. Und das Wasser ist so reißend wie der Big Muddy selbst.«
»Und was machen wir jetzt?« fragte Zachary ratlos und blickte den Scout an.
»Wir könnten versuchen, die Räder von den Achsen zu ziehen und die Wagen in Boote zu verwandeln«, antwortete Bidwell. »Bei der starken Strömung, die der Big Blue im Augenblick aufweist, wäre das allerdings ein sehr riskantes Unternehmen. Es wird zu lange dauern, bis ein Wagen am anderen Ufer ist. In der Zeit zieht sich der Wagenkasten voll Wasser. Wir haben wohl kaum genug Ölplanen, um alle Kästen abzudecken.«
»Dann müßte man die Planen von den Wagen, die bereits übergesetzt haben, wieder zurückbringen«, schlug Martin vor.
»Eine sehr langwierige Angelegenheit«, meinte der Scout. »Wir sind eh schon in Zeitnot.«
»Was dann?« schnaubte Abner Zachary.
»Flußaufwärts gibt es noch ein paar flache Stellen«, sagte Bidwell. »Ich könnte versuchen, dort eine Furt zu finden.«
»Ja, tun Sie das!« meinte der Prediger, froh über jeden halbwegs durchführbaren Vorschlag, den Treck aus der Misere zu führen.
»Dann gibt es da noch eine Möglichkeit«, fuhr der Scout fort, zögerte dann aber weiterzusprechen.
»Was denn?« fragte Zachary interessiert.
»Wir könnten die Überquerung des Big Blue vermeiden, indem wir unsere Route ändern.«
Der Prediger starrte Oregon Tom an wie einen Irren.
»Wollen Sie den Big Blue etwa hinter seiner Quelle umgehen?«
»Das nicht. Aber nordwärts müssen wir uns schon halten, um meinen Plan umzusetzen. Ich kenne nämlich ein Stück fruchtbares Land im Nebraska-Territorium, das genug Raum für Ihre Leute böte, sich dort niederzulassen.«
Abner Zachary sah den Scout schweigend an und blickte doch durch ihn hindurch. Der Prediger benötigte einige Zeit, um zu begreifen, was Bidwell damit anregte.
»Sie meinen«, begann Zachary schließlich schleppend, »wir sollen unseren Plan aufgeben, in Oregon zu siedeln?«
»Yeah. Genau das meine ich.«
»Aber, unser Plan, eine neue Stadt zu gründen, in der Weiße und Schwarze friedlich nebeneinander leben.«
»Das können Sie auch in Nebraska«, erwiderte der Scout. »Dort ist die Sklaverei verboten.«
»Ja. Aber wir wären in der Nähe des Krieges. Und was ist, wenn der Süden gewinnt?«
Der Scout zuckte nur mit den Schultern. Was heißen konnte, daß er darauf keine Antwort wußte. Oder daß sie ihm gleichgültig war.
»Was ist das überhaupt für ein Land, von dem Sie uns erzählt haben, Bidwell?« erkundigte sich der älteste Sohn des Predigers.
»Ehemaliges Indianerland, das die Roten abtreten mußten, als sie ins Reservat zogen. Die Regierung hat es zur Besiedlung freigegeben.«
»Das kommt alles ein bißchen plötzlich«, meinte Abner Zachary. »Wir müßten mehr über das Land in Nebraska erfahren, bevor wir eine Entscheidung fällen. Und das kann ich nicht allein. Das müssen alle entscheiden!«
»Errichten Sie hier das Lager und beraten Sie über die Frage«, schlug Bidwell vor. »Ich reite den Big Blue hinauf und suche eine Furt. Vermutlich werde ich erst gegen Abend wieder zurück sein. Falls ich eine Furt finde, erübrigt sich eine Entscheidung über meinen Vorschlag. Falls nicht, will ich Ihnen gern alle gewünschten Auskünfte geben. Dann sollten Sie sich allerdings entscheiden. Die Zeit drängt!«
Zachary nickte müde. »So sollten wir es halten.«
Der große, breitschultrige Prediger saß mit nach vorn hängenden Schultern auf dem Bock und wirkte gar nicht mehr so kräftig und energiegeladen wie in Kansas City, wo ihn Jacob und Martin zum erstenmal getroffen hatten. Die Verantwortung für fast zweihundert Menschenleben lastete immer schwerer auf seinen Schultern.
Mit einem Rest von Hoffnung sah er dem Scout nach, der wieder einmal auf Erkundung ritt. Sicher war es der wichtigste Erkundungsritt des ganzen Trecks.
Zacharys graue Augen blieben solange auf Bidwell gerichtet, bis dessen Regenmantel zwischen den vom Himmel stürzenden Bächen zu einem kaum noch erkennbaren Fleck verschwamm.
*
Nur durch die letzte Hügelwelle vom Big Blue River getrennt, fuhren die Auswanderer ihre Wagen zur Burg zusammen. Da Oregon Tom erst am Abend zurückkehren würde, war heute nicht mehr mit einer Weiterfahrt zu rechnen. Also konnten sie gleich das Nachtlager vorbereiten.
Der Vorschlag des Scouts, statt in Oregon in Nebraska zu siedeln, machte rasch die Runde und löste unter den Menschen erregte Diskussionen aus. Schnell bildeten sich Fraktionen heraus, und es fanden sich genauso gute Argumente für Oregon und gegen Nebraska wie für die gegenteilige Meinung.
Jacob, Martin und Irene beteiligten sich nicht an der hitzigen Debatte. Irenes Meinung stand unverrückbar fest: Sie wollte nach Oregon, weil Carl dort war. Nur kurz überfiel sie der Gedanke, nach Nebraska zu gehen und dort mit Jacob eine neue Existenz aufzubauen. Dann dachte sie an Carl und daran, daß Jacob seine Familie in Texas suchen wollte, und sie verwarf den Gedanken wieder.