Er hatte die Remuda fast erreicht, als er ein Pferd auf sich zukommen sah. Wegen der Regenschleier erkannte er Black Thunder erst auf die Distanz von fünfzig Yards.
Dann sah er den Reiter auf dem Pferd und fragte ihn laut nach dem Namen.
Er erhielt keine Antwort, erkannte aber auch so, daß er nicht zu den Auswanderern gehörte. George Kelley, Black Thunders Besitzer, war es auf keinen Fall. Die Haut des Reiters war zwar auch dunkel, aber nicht so sehr wie die des farbigen Jungen. Es war der bronzene Hauttton eines Indianers.
Als der Reiter Black Thunder auf einen der Hügel zutrieb, holte Jacob den Sharps unter dem Regenmantel hervor, zielte kurz und schoß. Er hatte auf die Schulter des Pferdediebs gezielt, um ihn an der Flucht zu hindern. Aber Regen und Sturm ließen die Kugel fehlgehen, und der Dieb verschwand hinter dem Hügel.
Der Schuß hatte die übrigen Wachen und die Auswanderer in der Wagenburg alarmiert. Bald umstanden Jacob ein paar Dutzend bewaffneter Männer, denen er sein Erlebnis berichtete.
»Jetzt wissen wir, auf wen Jackson Harris neulich geschossen hat«, schloß er. »Der Mann muß uns lange verfolgt haben.«
»Woher wollen Sie wissen, daß es derselbe Kerl ist?« fragte Aaron Zachary. »Vielleicht war es eine Rothaut hier aus der Gegend.«
»Nein, ich habe den Mann erkannt. Beim Pferderennen in Kansas City hat er Silver Dollar geritten.«
»Das Halbblut?« fragte Sam Kelley erstaunt.
Jacob nickte. »Es muß ihm viel an Black Thunder liegen, wenn er uns von Kansas City aus gefolgt ist.«
Die Auswanderer stellten einen Verfolgertrupp zusammen. Bald schwärmten über dreißig Reiter aus, um das Gelände zu durchkämmen. Bei dem Sturm keine einfache Aufgabe. Die schlechten Sichtverhältnisse boten dem Pferdedieb einen hervorragenden Schutz.
Einer nach dem anderen kehrte erfolglos zur Wagenburg zurück. Martin war einer der letzten. Er führte ein reiterloses Pferd bei sich, einen gesattelten Piebald mit einem Karabiner im Scabbard, aber ohne Zaumzeug. Die Satteltaschen waren mit Vorräten für einen langen Ritt gefüllt. Es bestand kein Zweifel, daß es das Pferd des Halbbluts war.
Martin sah den enttäuschten George Kelley mitleidig an. »Leider habe ich nur dieses Pferd erwischt, aber nicht deinen Black Thunder.«
»Vielleicht bringt Mr. Adler ihn zurück«, sagte der Junge ohne große Hoffnung.
Jetzt erst fiel den Menschen auf, daß Jacob noch nicht zurückgekehrt war.
»Wo steckt er bloß?« fragte Irene sorgenvoll.
»Er ist mit seinem Freund geritten«, meinte Aaron Zachary und sah Martin an.
Der erklärte: »Als ich den Piebald entdeckte und zu ihm hinritt, habe ich Jacob aus den Augen verloren. Ich dachte, er sei längst zurück.«
»Hoffentlich ist ihm nichts zugestoßen«, sagte Irene.
»Wir werden ihn suchen«, beruhigte Martin sie.
Aaron Zachary schüttelte seinen Kopf.
»Das hat bei diesem Sturm keinen Sinn. Wir könnten dicht an ihm vorbeireiten und würden ihn trotzdem nicht sehen.«
Als Martin hinaus auf die Prärie schaute, erkannte er, daß der Sohn des Treck-Captains recht hatte. Der Sturm wurde ständig stärker. Jacob konnte ganz in der Nähe sein oder sonstwo. Die wind- und regengepeitschte Prärie hatte ihn verschluckt.
*
Der Schemen des Reiters, der vor Jacob auftauchte, konnte kaum einem Auswanderer gehören. Zu weit war er von der Wagenburg entfernt.
Der Deutsche hielt den Grauschimmel an und bemühte sich, den Mann vor sich deutlicher zu erkennen. Aber es war zwecklos. Der Sturmwind trieb immer neue Regenschwaden zwischen Jacob und den anderen.
Der schemenhafte Reiter spornte sein Pferd an und war jetzt kaum noch zu sehen. Auch Jacob setzte den Grauen wieder in Marsch. Falls der Reiter vor ihm der Pferdedieb war, durfte er den Anschluß nicht verlieren.
Jacob wollte seinen Freund auf den Schemen aufmerksam machten. Aber Martin, der immer an Jacobs Seite geritten war, war plötzlich verschwunden. Der junge Zimmermann sah rings um sich herum nichts mehr als das nasse, vom Wind gepeitschte Gras, herabprasselnde Regenbäche und ihr schier unerschöpfliches Reservoir: die finsteren Wolken, die den Himmel bedeckten, soweit der Blick reichte.
Allein ritt Jacob dem schemenhaften Reiter nach, fast eine halbe Stunde lang. Immer wieder verschwand er aus seinem Blickfeld und tauchte plötzlich wieder auf. Abhängig davon, wie dicht der Regen fiel.
Jacob hatte das Gefühl, daß die Gestalt vor ihm ständig kleiner wurde. Falls es der Pferdedieb war, den er verfolgte, wunderte ihn das nicht. Jacobs Grauschimmel war ein kräftiges, ausdauerndes Tier, aber seine Schnelligkeit reichte bei weitem nicht an die von Black Thunder, Sieger des Pferderennens von Kansas City, heran.
Einen Augenblick überlegte Jacob, ob er sein Pferd anhalten und versuchen sollte, den anderen durch einen gezielten Schuß aus seinem Karabiner aufzuhalten. Er entschied sich aus mehreren Gründen dagegen.
Er war sich nicht sicher, ob der schemenhafte Reiter wirklich das Halbblut war. Vielleicht war es doch einer der Auswanderer.
Auch konnte er wegen des Wetters und der Entfernung keinen sicheren Schuß anbringen. Weder wollte er den Reiter töten noch das Pferd treffen.
Als der Reiter gänzlich aus seinem Blickfeld verschwunden war, bereute der Verfolger seine Entscheidung fast. Aber es war zu spät. Der Fremde war endgültig eingetaucht in den grauen Regendunst. Das schwache, an eine beständige Dämmerung erinnernde Tageslicht bot ihm zusätzliche Sicherheit vor der Entdeckung.
Trotzdem ritt der Deutsche weiter in die bisherige Richtung, von der schwachen Hoffnung beseelt, doch noch eine Spur von Black Thunder zu entdecken.
Etwa zehn Minuten, nachdem Jacob den anderen Reiter aus den Augen verloren hatte, scheute der Graue plötzlich und stieg mit den Vorderhufen in die Luft. Jacob konnte sich gerade noch im Sattel halten.
»Absteigen!« hörte er da eine Stimme, die hart an sein Ohr klang. »Eine falsche Bewegung, und ich schieße!«
Da entdeckte er den Sprecher - das Halbblut. Es lag mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden und richtete den schußbereiten Revolver auf den Deutschen.
Jacob stieg langsam aus dem Sattel, den Blick fest auf den anderen gerichtet.
Der Halbindianer war noch jung, jünger als der Deutsche. Der Hut war ihm vom Kopf gerutscht und enthüllte ein dunkles, schmales Gesicht mit dazu passenden dunklen, schmalen Augen, die jetzt zu gefährlichen Schlitzen zusammengezogen waren. Das schwarzglänzende Haar hing ihm bis auf die Schultern.
Er trug keinen Regenmantel und war völlig durchnäßt. Die braune Wildlederjacke, das blaue Baumwollhemd darunter und die schwarze Leinenhose, alles klebte an seinem Körper.
Aber das schien ihn genauso wenig zu kümmern wie der Schmerz, den das krampfhafte Zucken seiner Züge verriet. Konzentriert sah er Jacob an, und der schwere Colt Dragoon in seiner Faust folgte jeder Bewegung des Deutschen.
»Vom Pferd gefallen?« fragte Jacob, als er abgestiegen war.
»Yeah«, knurrte das Halbblut. »Der verfluchte Rappe ist in das Loch eines Präriehundes getreten und gestolpert.«
»Wo ist Black Thunder?«
»Keine Ahnung«, antwortete der am Boden liegende Mann gepreßt und kämpfte eine weitere Schmerzwelle nieder. »Weggelaufen, als ich gestürzt bin. Ich werde ihn suchen, sobald ich auf Ihrem Gaul sitze.«
»Nicht nötig«, meinte Jacob und sah über den anderen hinweg. »Da kommt Black Thunder schon angetrabt.«
Das Halbblut fiel auf seinen Bluff herein und blickte kurz zur Seite. Diese knappe Sekunde nutzte Jacob aus, um sich mit einem gewaltigen Satz auf den anderen zu stürzen. Als er auf das Halbblut fiel, krachte der Schuß.
Jacob spürte etwas sengend Heißes an seiner linken Wange, aber der erwartete Schock des Treffers blieb aus. Die Kugel war ganz dicht an seinem Gesicht vorbeigeflogen.