Als die Banditen dicht vor der Wagenburg waren, erscholl ein lautes Kommando Abner Zacharys, gefolgt vom Krachen einer Salve. Einige Banditen stürzten aus den Sätteln. Die anderen rissen ihre Pferde zurück.
Sie ritten, von einzelnen Schüssen verfolgt, hinauf auf die nächste Hügelwelle, sprangen dort von den Pferden und gingen in Deckung. Von hier aus nahmen sie die Auswanderer unter unablässiges, starkes Feuer.
Jacob sah, wie immer wieder Verteidiger getroffen zusammensackten. Einige Kugeln der Banditen schlugen auch in die Verstecke der Frauen und Kinder hinter den Wagen ein.
Plötzlich griff Angst nach Jacob. Angst um seine Freunde. Irene, Jamie und Martin waren noch drüben. Die Kelleys, die Millers, Custis Hunter und Melvin Freeman mit ihren Frauen und dem kleinen Bobby. Auch Billy Calhoun und Urilla Anderson.
»Wir müssen Zacharys Trupp helfen!« rief Jacob den Leuten am diesseitigen Ufer zu. »Allein sind sie zu schwach.«
Der grobschlächtige Patrick O'Rourke, dessen Maul um so größer geworden war, je besser seine Schulterwunde verheilte, trat vor und erwiderte: »Wie stellen Sie sich das vor, Adler? Sollen wir unsere Wagen zurück durch den Fluß fahren? Ich mache das bestimmt nicht ein zweites Mal mit!«
»Die Wagen bleiben hier. Nur die Männer gehen hinüber.«
»Wie denn? Die Strömung wird uns wegspülen!«
»Wir hangeln uns an den Seilen hinüber. Waffen und Munition schlagen wir fest in Ölhaut ein und binden sie um unsere Körper.«
»Das ist verrückt!« schnaubte der Ire und stapfte zu seinem Wagen. »Ich mache das bestimmt nicht mit! Ich haue ab von hier, solange noch Zeit ist. Wer kommt mit?«
Er sah herausfordernd in die Runde.
»Sie gehen nicht!« stieß Jacob scharf hervor. »Ich kann Sie nicht zwingen, mit mir über den Fluß zu gehen, O'Rourke. Aber ich verbiete ihnen, den Treck im Stich zu lassen!«
»Verbieten? Mit welchem Recht?«
»Mit dem Recht, das mir als Angehörigem dieses Trecks zusteht. Wir haben uns geschworen zusammenzuhalten, bis wir in Oregon sind!«
Der Ire zeigte hinüber zum anderen Flußufer, wo immer mehr Auswanderer unter dem Feuer der Banditen fielen. Ein paar der Verwundeten ließen sich von den Frauen verbinden und kehrten auf ihre Posten zurück.
»So etwas war nicht eingeplant«, zischte O'Rourke, und ein Zucken lief durch sein breites, abstoßendes Gesicht. »Ich fühle mich an mein Versprechen nicht mehr gebunden!«
Er wollte auf den Bock seines Wagens klettern. Mit zwei schnellen Sätzen war Jacob bei ihm, riß ihn herunter und versetzte ihm einen rechten Schwinger ans Kinn, der den Iren zu Boden schickte. Blut rann aus O'Rourkes Mundwinkel.
Liam O'Rourke, Patricks rothaariger Bruder mit derselben abstoßenden Physiognomie trat hinter dem Wagen hervor und richtete seine doppelläufige Schrotflinte auf Jacob.
»Bleiben Sie stehen, wo Sie sind, Adler. Noch eine Bewegung, und ich mache aus Ihnen ein Sieb!«
»Das glaube ich nicht!« erscholl hinter Liam die Stimme von Noah Koontz. Der dunkelhäutige Farmer ging auf den Rothaarigen zu und richtete eine alte Vorderladerflinte auf ihn. »Meine Rifle ist alt, aber sie reißt große Löcher. Wenn Sie abdrücken, tu ich es auch, O'Rourke!«
Immer mehr Männer richteten ihre Waffen auf den Iren. Widerwillig ließ der seine Schrotflinte sinken. Jacob riß sie ihm aus der Hand.
»Danke, Noah«, sagte er. »Vielleicht passen Sie auf unsere irischen Freunde auf, während ich mit allen Männern, die mir folgen wollen, über den Fluß gehe.«
»Es wird mir ein Vergnügen sein«, knurrte der Schwarze, seine Flinte noch immer auf Liam O'Rourke richtend.
Wenige Minuten später hangelte sich Jacob an der Spitze von mehr als zwanzig Männern zurück durch den Fluß. Sie kamen, fast bis zu den Köpfen von Wasser umspült, nur langsam vorwärts, weil sie sich sorgsam mit einer Hand festhielten, während die andere nach vorn griff. Eine unbedachte Bewegung, und die Strömung würde den Mann mit sich fortreißen. Außerdem schränkten die umgeschnallten, schweren Ölhautpäckchen mit Waffen und Munition ihre Bewegungsfreiheit stark ein.
Als Jacob etwa in der Flußmitte war, spritzte plötzlich das Wasser vor ihm auf. Nach zwei Sekunden begriff er, was geschehen war: eine Kugel!
Die Banditen nahmen sie unter Feuer. Immer mehr Geschosse klatschten neben und zwischen den Männern ins Wasser.
»Schneller!« rief Jacob seinen Begleitern zu. »Sonst bieten wir ein zu gutes Ziel!«
Er selbst setzte so schnell wie möglich eine Hand vor die andere. Mehrmals zischten Kugeln nur knapp an ihm vorbei. Die Männer um Abner Zachary taten ihr Bestes, um dem Trupp Feuerschutz zu geben. Aber sie waren zahlenmäßig einfach zu schwach, um die Angreifer durch ihre Schüsse in Deckung zu halten.
Jacob spürte Grund unter seinen Füßen, als er hinter sich einen lauten Schrei hörte. Als er sich umsah, stürzte gerade ein Mann in die Fluten. Es war Eimer Cartland, ein weißer Farmer, der sich zusammen mit seinen Söhnen Leo und Matt Jacobs Rettungstrupp angeschlossen hatten.
Während die Söhne des Verwundeten noch mit panischem Erschrecken dem sich rasch entfernenden Körper ihres Vaters nachblickten, stürzte sich Jacob in den Fluß und schwamm ihm nach.
Eine Welle überspülte den Zimmermann, und er verlor Cartland aus den Augen. Jacob kam wieder an die Oberfläche und blickte um sich. Er entdeckte den Verwundeten ganz in seiner Nähe. Mit ein paar kräftigen Schwimmzügen war er bei ihm und griff ihm unter die Arme. Der Farmer atmete schwach. Aus der Mitte seiner Brust sickerte Blut und vermischte sich mit dem Flußwasser.
Mit dem rechten Arm schwimmend, Cartland mit dem linken Arm festhaltend, kämpfte Jacob gegen die Strömung an. Zum Glück befand er sich schon recht nah am Ufer, sonst hätte er kaum eine Chance gehabt. Überraschend stießen seine Füße auf Grund. Er mußte eine unerwartet seichte Stelle erwischt haben.
Schließlich schaffte er es, den Farmer an Land zu ziehen. Der Ausdruck von Cartlands Augen war seltsam glasig. Der Mann war tot.
Zum Trauern hatte Jacob keine Zeit. Er nahm Cartlands Ölhautpacken an sich und lief flußaufwärts, wo sich etwa eine halbe Meile entfernt die Auswanderer erbittert gegen die Banditen verteidigten.
Kurz vor den Wagen rissen Kugeln den Boden um ihn herum auf. Jacob war so ausgepumpt, daß er keine Maßnahmen traf, dem feindlichen Feuer auszuweichen. Er lief einfach weiter und erreichte, wie durch ein Wunder unversehrt, die Wagenburg. Dort ließ er sich ermattet hinter eine große Werkzeugkiste fallen.
Leo Cartland kroch, einen Revolver in der Rechten, auf ihn zu. »Mein Vater, wo ist er?«
»Ich habe ihn aus dem Fluß gezogen, aber da war er schon tot.«
Leo nickte mit versteinertem Gesicht, kroch zurück unter den Planwagen, unter dem er gelegen hatte, und leerte die Trommel des Revolvers.
Soweit Jacob erkennen konnte, war Cartland der einzige, der bei der Flußüberquerung gestorben war. Aber in der Stellung der Verteidiger lagen viele Getroffene, und einige davon waren tot.
Er entdeckte Abner Zachary, der hinten in seinem Conestoga hockte und aus einem großen Revolver auf die Banditen schoß. Jacob stemmte sich hoch, lief im Zickzack zu ihm und ließ sich neben dem schweren Wagen auf den Boden fallen.
»Wie sieht es aus?« fragte der Deutsche keuchend.
»Wir können uns nicht mehr lange halten. Die Banditen schießen uns sturmreif. Wenn sie eine zweite Attacke reiten, sind wir erledigt.«
Jacob sah in die schwitzenden, pulvergeschwärzten Gesichter der Auswanderer und erkannte, daß der Prediger recht hatte. Es waren wackere Männer, aber keine Kämpfer. Die Outlaws dagegen waren das Schießen und Töten gewohnt, vielleicht auch das Sterben.
»Dann müssen wir es ihnen geben«, sagte Jacob. »Vielleicht lassen sie uns dann in Ruhe.«
»Was?«
»Das Geld! Die achtzigtausend Dollar. Ich gehe hinaus und spreche mit Jed Harper.«