Zachary sah ihn entsetzt an.
»Wenn Sie auch nur einen Fuß vor die Wagen setzen, wird man Sie abknallen wie einen tollen Hund, Adler!«
»Ich brauche eine weiße Fahne!«
Zachary nickte und reichte ihm einen Kissenbezug aus weißem Leinen, den Jacob am Lauf von Cartlands Merril-Karabiner festband. Dann schickte er sich an, die Wagenburg zu verlassen.
Martin tauchte aus seiner Deckung auf und schrie: »Jacob, laß das sein! Das ist Wahnsinn! Selbstmord!«
»Ich muß es versuchen«, erwiderte Jacob und kletterte über eine Wagendeichsel nach draußen, den Karabiner mit der weißen Fahne hochhaltend.
*
Die Schüsse von den Hügeln wurden nicht weniger, eher mehr. Schossen die Banditen tatsächlich auf den Unterhändler?
Dann aber erkannte Jacob, daß sie nicht auf ihn und auch nicht mehr auf die Verteidiger in der Wagenburg schossen.
Auf den Hügeln herrschte große Aufregung. Immer mehr Männer sprangen auf ihre Pferde und galoppierten davon. Einige davon schossen auf einen Gegner, der für Jacob und die Auswanderer unsichtbar war.
Kein Zweifel, die Menschen am Fluß hatten Hilfe bekommen. Aber von wem?
»He, nicht mehr schießen!« rief eine Stimme von den Hügeln, die Jacob bekannt vorkam, die er aber nicht einordnen konnte.
»Wir schießen nicht mehr!« schrie der Zimmermann zurück.
Eine Gruppe von etwa dreißig Reitern sprengte von den Hügeln auf die Wagenburg zu. An ihrer Spitze ritt ein großer, schnauzbärtiger Mann auf einem kräftigen Apfelschimmeclass="underline" Bowden Webb, der Marshal von Kansas City. Jacob erkannte jetzt auch die Deputys Grant Begley und Bill Stoner sowie einige Gesichter von Bürgern der Missouri-Stadt.
»Sieht so aus, als seien wir gerade noch rechtzeitig gekommen«, meinte Webb, der sein Pferd vor Jacob zügelte. »Die Banditen waren nicht darauf gefaßt, von zwei Seiten unter Feuer genommen zu werden. Sie haben schneller die Flucht ergriffen, als wir schießen konnten.«
»Das war wirklich in letzter Minute«, sagte Jacob und ließ die Parlamentärsfahne sinken. »Woher wußten Sie, daß wir in Gefahr sind?«
»Wir haben uns so etwas gedacht, als uns Ben Miller erzählte, daß Ihr Scout, dieser Tom Bidwell, ihn ermorden wollte.«
»Ben?« rief Agnes Miller und stürmte, gefolgt von den anderen Auswanderern, aus der Wagenburg. »Ben lebt?«
Der Marshal nickte.
»Er ist allerdings noch ziemlich geschwächt. Bidwell hat ihm in den Rücken geschossen und ihn für tot liegen lassen. Wahrscheinlich dachte er, die von ihm aufgescheuchten Büffel würden Miller zu Brei stampfen. Aber Ihr Mann konnte sich hinter eine Felsgruppe retten, bevor die Stampede richtig losging. Schwer verletzt hat er sich dem Treck nachgeschleppt und sich wohl nur von Kräutern und Wurzeln ernährt. Er braucht viel Pflege, bis er wieder auf dem Posten ist.«
»Wo ist er?« fragte Agnes, die es noch immer nicht ganz glauben konnte.
»Dort«, antwortete Webb und zeigte nach hinten, wo langsam ein Reiter den Hügel herunterkam. Er zog nach Indianerart eine Bahre nach sich, auf der ein ausgemergelter Ben Miller lag. Seine Frau und seine Kinder liefen zu ihm und gingen, weinend vor Glück, neben der Schleppbahre auf die Knie.
»Aber wie haben Sie Ben überhaupt gefunden, Marshal?« wunderte sich Jacob.
»Das verschwundene Geld aus der Asquith Trading Bank hat mir keine Ruhe gelassen. Mr. Asquith und den Bürgern, die ihre Dollars bei ihm deponiert hatten, auch nicht. Als plötzlich dieser Spieler mit seiner Geliebten aus der Stadt verschwand, haben wir uns unseren Reim darauf gemacht, eine Posse zusammengestellt und sind ihm gefolgt. Die Spur führte zu Ihrem Treck.«
»Clayton liegt gefesselt in seinem Wagen«, erklärte Jacob und zeigte auf das Fuhrwerk. »Zusammen mit den Dollars. Wir sind erst darauf gekommen, als die Banditen hinter dem Geld her waren. Bidwell hat es ihnen verraten.«
Jacob klärte den Marshal über die Einzelheiten auf, während die Auswanderer ihre Verwundeten versorgten.
»Dann werden wir Clayton und Miß Anderson zurück nach Kansas City bringen«, meinte Webb.
Martin sprang vor.
»Wieso Urilla? Sie hat mit dem Diebstahl nichts zu tun.«
Webb wiegte seinen Kopf hin und her. »Das ist vielleicht eine Streitfrage. Jedenfalls kann sie nicht allein in der Wildnis bleiben.«
»Sie ist nicht allein«, sagte Martin bestimmt. »Jacob und ich sind bei ihr. Wir haben unseren Wagen verloren und wären Miß Anderson dankbar, wenn wir auf dem ihrem mitfahren dürften. Nicht, Jacob?«
Der nickte nur und verkniff sich ein Grinsen.
»Und was sagen Sie dazu, Miß Anderson?« fragte Webb.
»Ich möchte mitfahren nach Oregon«, sagte die junge Frau leise. »Wenn ich darf, Marshal.«
Webb seufzte. »Na schön.« Er sah das Halbblut an. »Und was ist mit Billy Calhoun? Ich bin verwundert, ihn hier zu sehen.«
»Er hat sich uns als Führer über die Rocky Mountains angeboten«, antwortete Jacob schnell. »Er kennt die Berge, die er schon einmal mit einem Frachtzug überquert hat. Das kommt uns sehr gelegen, jetzt, wo Bidwell ausgefallen ist.«
Billy sah Jacob dankbar an.
»Wollen Sie denn wirklich weiter?« fragte Webb. »Sie haben schon viel Zeit verloren.«
Zachary sah in die Runde seiner Leute und fragte laut: »Wer will umkehren?«
Niemand meldete sich.
Am Morgen des folgenden Tages zog der Treck weiter. Er ließ neun hölzerne Kreuze am Ufer des Big Blue zurück. Und neun Menschen, deren Traum vom Gelobten Land hier begraben war.
Aber der Mut und die Zuversicht der Auswanderer waren ungebrochen. Auch wenn der größte Teil der 2000 Meilen langen Strecke noch vor ihnen lag, sie würden den Kampf gegen die Zeit aufnehmen.
Im Westen erhob sich ein noch weit entferntes Ziel, das es vor Einbruch des Winters zu überqueren galt die mächtige Gebirgskette der Rocky Mountains.
ENDE
Und so geht das Abenteuer weiter
Das Pech bleibt dem Oregon-Treck treu. Und auch der Tod.
An einer steilen Anhöhe neben einem Abgrund löst sich der Grund unter den Hufen von Abner Zacharys Maultieren. Der Wagen gerät außer Kontrolle - und zerquetscht den Treck-Captain!
Im Sterben ernennt Zachary Jacob Adler zu seinem Nachfolger. Eine Bürde, die um so schwerer wiegt, als klar wird, daß der Unfall in Wirklichkeit ein gemeiner Anschlag war! Irgend jemand folgt dem Treck und hat Böses im Sinn!
Das Halbblut Billy Calhoun glaubt zu wissen, wer dafür verantwortlich ist. Die Gestalt aus einer alten Sage:
DAS PHANTOM DER ROCKY MOUNTAINS von J.G. Kastner